Seite - 129 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

129 April 1872 5 10 15 20 25 30 35 40 45 Note auswendig weiß. Dahin gehört Mozarts „Zauberflöte“, Webers „Freischütz“, Rossini’s „Barbier“. Die „Zauberflöte“ und der „Barbier“ haben ferner auch die Eigenheit, daß man jeden Scherz, jede Narrensposse, die da kommen wird, im voraus weiß und dennoch über den Scherz oder die Posse von ganzem Herzen lacht. Der „Barbier“ ist auch recht eigentlich die Oper, welcher der liebenswürdige Maestro Rossini seine Unsterblichkeit und seine Popularität zumeist zu danken hat. Während wir bei dem gleichzeitig componirten „Otello“ mit verhaltenem Gähnen – nur im dritten Act gähnen wir nicht – allenfalls den Sängern applau- diren und uns wundern, wie eine Musik, welche als Novität von dem Enthusias- mus der damaligen Opernfreunde über alles andere Bekannte oder Unbekannte gestellt wurde (siehe Hauffs „Othello“) in so kurzer Zeit, nach kaum etwas mehr als fünfzig Jahren so gar alt und welk geworden sein könne, durchzuckt es uns noch jetzt wie ein elektrischer Schlag, wenn Figaro sein Largo al factotum intonirt, horchen wir der zierlich-coquetten Cavatine Rosina’s mit Wohlgefallen und werden von der Komik des Momentes unwiderstehlich hingerissen, wenn Figaro, Graf Bartolo, Rosina und alle zusammen im schnellsten Parlando dem Führer der Scharwache den Stand der Dinge erklären und er dem Charivari mit einem salbungsvollen ho capito antwortet. Wollte man Rossini’s und Mozarts Figaro etwa neben einander rücken und sich mit Vergleichungen und Werthbestimmungen abängstigen, so thäte man beiden Meistern und Werken Unrecht. Rossini’s Oper ist eine Buffonerie in des Wortes glücklichster Bedeutung, ein Schwank, eine geist- reiche Posse, Mozarts Oper ist ein feines Lustspiel höherer Ordnung, auch abge- sehen von der unerreichbaren musikalischen Schönheit, ein Meisterstück an Zeichnung der Charaktere und Situationen. Oettinger hat einmal den seltsamen Einfall gehabt, die einzelnen Componisten mit Weinsorten zu vergleichen. Woll- ten wir auf seinen Einfall eingehen, so könnten wir sagen, Rossini’s Oper sei mous- sirender Barbera oder Asti (der italienische Champagner), Mozarts Oper edelster Rheinwein, etwa Johannisberger erster Qualität. Wer seinen Vortheil versteht, wird sich beide behagen lassen. Daß uns die italienische Operngesellschaft den „Barbiere“ brachte, ist ganz besonders willkommen, bot er uns doch Gelegenheit, Adeline Patti, die wir bisher in lauter tragischen oder sentimentalen Rollen ge- sehen, von einer neuen Seite kennen zu lernen. Adeline Patti entwickelte in der Rolle der Rosina eine graziöse Schalkhaftig- keit, eine sprudelnde Laune, daß man wohl behaupten möchte, sie sei die echte und wahre Rosina Rossini’s wie keine andere Künstlerin. Signora Patti erschien in dieser komischesten der komischen Opern eben so bewundernswerth wie in den früheren, ganz entgegengesetzter Richtung angehörigen Leistungen. Das schnip- pische „ma“ in der Cavatine rief beide Male die größte Heiterkeit des Publicums hervor. In der Lectionsscene sang Signora Patti einen Bolero aus der „sicilischen Vesper“ (also wieder Verdi!) und ein spanisches Lied, in dem die Melodie einige Male von den für diese Gattung Volksgesang charakteristischen jauchzenden Schreiaccenten unterbrochen wurde. Signora Patti wußte letztere so eigen pikant und anmuthig herauszubringen, daß man sich mit dem eigentlich höchst bedenk- lichen Effectmittel versöhnen konnte. Signor Corsi errang sozusagen einen Sieg – anfangs hatte das Publicum nicht übel Lust, ihn, der an Signor Nicolini’s Abreise