Seite - 132 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

132 April 1872 60 65 70 75 80 85 90 95 100 Denkmale deutschen Geistes ruhig gefallen. Die Langmuth des deutschen Publi- cums ist vielleicht noch etwas größer als jene des Himmels. Das Aergste ist, daß der Gounod’sche „Faust“ sogar anfängt den „Faust“ Goethe’s aus der Memoire des Publicums zu verdrängen. Ich kann es mir nicht versagen, ein charakteristisches Histörchen einzuschalten. Einer meiner Freunde hatte als Lehrer irgendwo mit einer jungen Dame von Extraction deutsche Classiker in usum Delphini ommissis ommittendis zu lesen. Er liest also auch ommissis ommittendis Goethe’s „Faust“ und darin auch die Scene in Auerbachs Keller. Die junge Dame wird unruhig, kann ihr Mißbehagen, endlich ihren Unmuth nicht verbergen und ruft schließlich mit Ent- rüstung: „aber sagen Sie mir, Herr Professor, wie ist es doch möglich, daß Goethe aus der herrlichen, zarten, hochpoetischen Gestalt des Siebel eine solche Caricatur hat machen können!“ – – – Es hätte geradezu ein Wunder heißen müssen, wenn Robert Schumann, der in der deutschen poetischen Litteratur umherging wie ein Löwe und suchte, was er componire, nicht auch an Goethe’s „Faust“ hätte gerathen sollen. Aber, wie sonderbar, Dinge, bei denen Goethe ganz ausdrücklich auf Musik gerechnet hat, die Geisterchöre der ersten Scene, die Lieder in Auerbachs Keller u. s. w. läßt Schumann liegen und bringt an mehr als Einer Stelle seine Musik an, wo sie durchaus nicht am rechten Ort ist. „Störe die Musiker nicht“, ruft der weise Sirach, „und wenn man Lieder singt, so schwatze nicht darein, sondern spare deine Weis- heit für andere Zeit.“ Hier möchte man umgekehrt rufen: „und störe den Dichter nicht, und wenn er uns das Schönste und Tiefsinnigste mit dem ganzen Zauber seiner Sprache zu sagen hat, wie in Fausts Monolog „des Lebens Pulse schlagen frisch lebendig“, so musicire nicht darein, sondern spare deinen Contrapunkt für andere Stellen“. Was soll man dazu sagen, wenn die Gartenscene, die ganz auf das herzige, unbefangene Plaudern Gretchens berechnet ist, hier zur förmlichen Opernscene umgeschaffen wird? Ist es nicht, als rufe man etwa zum Apoll von Belvedere den Schneider: „Da, miß dem Gotte Kleider und miß ihm Hosen an?“ – Und würde sich Apoll in Galafrack und weißer Weste besser ausnehmen als in der einfachen Marmorpracht und ewigen Jugend seiner göttlichen Glieder? Aber Schumann laborirte in ganz besonders hohem Grade an einer Krankheit, an der mancher deutsche Componist (z. B. auch Max Bruch) leidet, an einer Metastase des Dranges, Opern zu schaffen auf ungehörige künstlerische Stoffe. Schumanns „Glück von Edenhall“, „Sängers Fluch“, „Page und Königstochter“ u. s. w. gehören in diese Classe. Merkwürdig genug darf es heißen, daß in Schumanns „Faust“- Musik fast Alles, wo wirklich begleitende Musik nöthig ist, vortrefflich gerathen und so ziemlich Alles mißrathen, wo sich die Musik der Poesie aufdrängt. In der Scene der „vier grauen Weiber“ werden diese düsteren Gespenster durch die Musik ganz außerordentlich gut illustrirt (wie köstlich ist der Einfall mit den Fleder- mauspfiffen dieser vampyrischen Unholde!), sobald Faust der „Sorge“ antwortet und zu singen anfängt, statt zu reden, wird die Musik sogleich leer, nichtssagend, langweilig. Im Allgemeinen darf man sagen, daß die dritte Abtheilung (die Anachoreten-Scene) zu dem Schönsten und Bedeutendsten gehört, was Schumann geschaffen, und folglich zu dem Schönsten und Bedeutendsten, was die neuere Musik hervor gebracht – wogegen man von der ersten Abtheilung das Umgekehrte