Seite - 137 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

137 April 1872 45 50 55 60 65 70 75 80 85 der junge Componist braucht ja diese Arbeiten nicht aufführen zu lassen, wenn er etwa fürchtet als Zopf und Reactionär in Verruf zu kommen. Ist man der alten Form mächtig, dann mag man sie ins Himmels Namen wegwerfen, wenn man für sie etwas Besseres weiß. An sich ist sie aber sicher noch einer Füllung mit endlosem Inhalt fähig, so wie die Natur innerhalb der ein für alle Mal normirten Menschenform zahllose und immer neue Individualitäten hervorbringt und nicht nöthig ist, der Abwechslung wegen nach Sir John Mandeville’s fabulosen Menschenfressern zu verlangen, „denen der Kopf unter den Schultern heraus- wächst“. Wie man sich in der Instrumentalmusik in freieren Formen bewegen und doch organisch schaffen könne, mögen unsere Kunstjünger aus gewissen Klavier- stücken des – alten Joseph Haydn lernen, der unserer jungen Genieschule freilich ein Greuel ist – ich meine die sogenannte Phantasie in C-dur und das anmuthige Capriccio in G-dur – beide im zweiten Bande der neuen Cotta’schen Edition zu finden. Von zwei jungen Pianisten spielte der eine, Herr Arnold Bardas, Schüler des Herrn Professors Door, Mendelssohns „Serenade und Allegro giojoso“ und Herr Sigmund Preuß, Schüler des Herrn Professors Epstein, den zweiten und letzten Satz des so äußerst schweren Henselt’schen Concertes – beide recht brav und tüchtig. Herr Preuß besteht, wenn ich so sagen darf, aus dem Holze, aus dem man ganze und echte Künstler schnitzt, und bei seinem Vortrag des Concertes konnte man oft vergessen, daß es noch ein Schüler sei, den man hier höre. Bei fortgesetztem Studiren kann man ihm eine schöne Zukunft prophezeien. Den Adagio-Satz des Spohr’schen Doppelconcertes führten zwei junge Violinis- tinnen, die Fräulein Helene und Natalie Lechner, ganz wacker aus. Unter den Gesangstücken wurde besonders die Baß-Arie „Dein Heldenruhm war einst mein Lied“ aus Händels „Samson“ mit unendlichem Applaus aufgenommen. Herr Joseph Staudigl, der sie sang, bewährt sich als der würdige Sohn seines unvergeß- lichen Vaters – möge der junge Sänger aber ja nicht übersehen, daß jener enthusi- astische Beifall zum Theil der pietätvollen Erinnerung an den Letzteren galt. Einen jungen, strebenden Künstler kann man durch derlei Demonstrationen sicher sehr leicht irre machen. Gehe Herr Staudigl Sohn unbeirrt seinen Weg weiter und wir werden in ihm vielleicht einen Ersatz für seinen der Kunst allzu früh entrissenen Vater bekommen. Die Damen Elise Wiedermann und Anna v. Angermayer trugen ein allerliebstes Duett „Schneeglöckchen läutet“ von Bernhard Scholz allerliebst vor, nicht minder trefflich Schumanns „Herbstlied“ (ein köstliches Stück!) – bei „Wanderers Nachtlied“ von Rubinstein war das Tempo unverkennbar etwas zu schnell. Mendelssohns „Erstes Veilchen“, Chopins „Lithauisches Volkslied“ und Tauberts „Forelle“ wurden von Frl. Mathilde Meßnik gesungen, welche als Sänge- rin die unschätzbare Eigenschaft besitzt, äußerst deutlich auszusprechen und sehr gut, verständig und ansprechend im Vortrage zu detailliren. Ein etwas herber Beiklang der Stimme wird sich wohl in der Folge noch mildern. Das Taubert’sche Lied „Die Forelle“ war für uns eine Novität, es enthält vieles sehr Hübsche, ist aber so maßlos lang – eine förmliche Ballade à la Zumsteeg – daß man dabei allenfalls ein Gericht Forellen blau sieden könnte. Sämmtliche junge Damen fanden leb- haftesten Beifall. Es weht aus diesen Zöglingsconcerten ein eigener wohlthuender Hauch von Jugendfrische, von reiner, um nicht zu sagen naiver Freude an der