Seite - 155 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

155 April 1872 10 15 20 25 30 35 40 45 50 Händels, Bachs, Haydns, Mozarts, Beethovens, C.  M. v.  Webers u. a. m. können wir uns ihr Bild (nämlich ihr Künstlerbild, nicht die zufällige äußere Erscheinung ihrer Person) gar wohl in fest gezogenen Umrissen hinstellen – und umgekehrt, gegen diesen synthetischen Weg den analytischen einschlagend, werden wir, wenn uns ein geist- und einsichtsvoller Kenner eine treffende Charakteristik Händels, Bachs u. s. w. gegeben, diese durch die einzelnen Werke des Meisters bestätigt finden – das Einzelne wird, ohne sich irgendwo innerlich zu widersprechen, über- all sich zu einem Ganzen zusammenfügen. Dieser Eindruck wird auch dann noch vorhanden sein, wenn wir die Laufbahn des Künstlers als ein stätes Fortschreiten, als eine Entwicklung erkennen, kraft deren die Werke, mit denen der Künstler begonnen, den augenfälligsten Unterschied von jenen, mit denen er geendet, wahrnehmen lassen, wie z. B. bei Beethoven der Fall ist; der Beethoven des Septuor ist am Ende doch auch der Beethoven der neunten Symphonie, die Züge der Handschrift haben sich geändert, die schreibende Hand ist dieselbe geblieben. Künstler, die mit ihrem Styl gleich fix und fertig sind und während eines langen Schaffens in ihrer künstlerischen Physiognomie keinen Zug ändern, wie J.  S. Bach, sind sogar eine Seltenheit. Wie nun bei Rubinstein? Die vorhin genannten Musik- historiker künftiger Zeiten werden ihm unter den Tonkünstlern unserer Zeit eine der allerersten, ja unter den Componisten überhaupt eine bedeutende Stelle an- weisen müssen – wenn nun aber bei dieser ästhetisch-kritischen „Unsterblichkeits- erklärung“ (der propositio inversa der juristischen „Todeserklärung“) ein Contra- dictor, ein Opponent, ein advocatus diaboli auftritt und den Historikern gewisse Arbeiten des Componisten entgegenhält, so werden die Historiker stutzen. Ist es z. B. möglich (werden sie fragen), daß ein Werk wie die Ocean-Symphonie und ein Werk wie die Oper „Feramors“ einer und derselben Phantasie entsprungen sein können, daß sie einem und demselben Autor gehören? Eine herrliche, gewaltige Symphonie, auf die hin wir geneigt sein werden, ihrem Schöpfer einen Platz in der Nähe Beethovens, wenn vielleicht auch nicht eben an seiner Seite anzuweisen (denn wer könnte dorthin gestellt werden?), und eine Oper, deren triste Sterilität, deren Mangel an Erfindung, Frische und Leben uns überhaupt am Talente des Componisten verzweifeln machen könnte, so daß wir ihm wohl die Fähigkeit des Machens zugestehen, aber die Fähigkeit des Schaffens absprechen möchten! – „bringt denn ein Quell aus derselben Oeffnung süßes und bitteres Wasser?“ frägt der Apostel Jakobus. Der Widerspruch beginnt bei Rubinstein oft schon in einzel- nen Werken – sie gleichen zuweilen dem aus Gold und aus werthlosem Metall zusammengesetzten Königsbilde in Goethe’s Mährchen. Insbesondere scheint das Wort – das Textwort nämlich – auf Rubinstein hemmend einzuwirken, der sich in reinen Instrumentalcompositionen am freiesten und glücklichsten bewegt. Wenn jener halbverrückte Geistliche, von dem Goethe (in der „Campagne in Frankreich“) erzählt eifrig behauptete, „durch das Wort werde Alles gemacht“, so könnte man bei Rubinstein umgekehrt sagen, daß durch das Wort Alles verdorben wird. Das „verlorene Paradies“ läßt darüber so wenig einen Zweifel übrig wie „Fera- mors“. Ja es geht dieses so weit, daß die reinen Instrumentalsätze im „Feramors“ relativ das Bessere und Anziehendere sind, z. B. die Balletsätze (obwohl auch diese mit Gluck’scher oder Meyerbeer’scher Balletmusik den Vergleich nicht aushalten),