Seite - 158 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

158 April 1872 145 150 155 160 165 170 175 180 185 mentalmusik so oft Motive bringt, welche unsere Seele an der Wurzel packen, durch die Textesworte, die er componiren soll, alle Freiheit so sehr verliert, daß seine melodische Erfindungskraft völlig lahmgelegt scheint? Es giebt Leute, die bei Richard Wagner über Mangel an Melodie klagen – nun sie mögen den „Feramors“ anhören! Man argumentire übrigens ja nicht: daß, weil am Abend der ersten Aufführung im Publicum in Beifalls- und Mißfallenszeichen ein lebhafter Widerstreit entstand, das Werk am Ende ein „bedeutendes“ sein müsse; denn nur über das Bedeutende streite man, das Unbedeutende lasse man still fallen. Der Satz mag seine Richtigkeit haben, wo es sich um ein Werk und nur um ein Werk handelt; wo aber die persönliche Beliebtheit eines Künstlers einerseits, andererseits Verstimmung über das Werk die Motive des Widerstreites sind, also ganz ungleichartige Factoren zusammentreffen, darf man obige Schluß- folgerung ja nicht machen. Nach dem ersten Acte, der mit jener wirksameren Muezzin- Scene endet, war der Beifall noch ziemlich lebhaft und allgemein, so abkühlend sehr Vieles auch schon in diesem Acte gewirkt hatte. Nur als der „Segen“, der nach Schiller „von oben“ kömmt, nach zweimaligem Hervorruf einen dritten versuchte, regte sich unten die Opposition, und das war schlimm, denn jetzt war die Opposition zum Leben geweckt und verstummte im Laufe des Abends nicht mehr. Der Kampf zwischen Klatschen und Zischen dauerte fortan bis zum Ende; der Beifall nahm endlich geradezu etwas Erbittertes an, er wurde leidenschaftlich; be- greiflicher Weise wurde die Gegenpartei dadurch nicht zum Schweigen gebracht und so entspann sich eine Scene, wie wir uns ihrer im Hofoperntheater nicht zu erinnern wissen und deren Wiederholung wir auch in der That nicht wünschen. Rubinstein, im Leben ein starker, mannhafter, gerader und offener Charakter, dem, wie ich ihn zu kennen glaube, ein ehrliches aufrichtiges Wort einer ihn wahr- haft hochachtenden Kritik zehn Mal lieber sein wird als alle hypokritische Schön- färberei, kann sich nicht wohl darüber getäuscht haben, daß der Erfolg seines „Feramors“ kein glücklicher war. Welcher Feldherr sollte aber nicht einmal das Geschick erfahren, daß er eine Schlacht verliert – und ist oder wird er darum weniger? Hoffentlich wird „Feramors“ für Rubinstein kein Waterloo sein! – Ich athme ordentlich auf, daß ich das Vorstehende, das wahrlich niemandem peinli- cher sein kann, als es mir geworden ist, vom Herzen habe. Amicus Galba, magis amica veritas. Mit wahrer Freude – ordentlich mit dem Ausruf der zehntausend Griechen: „Thalatta, Thalatta!“ – begrüße ich die Ocean-Symphonie. Hier ist rei- che, blühende Erfindung, eine so reiche Entwicklung bedeutender musikalischer Erfindung und eine so machtvolle Steigerung der Wirkung – besonders im Gange des ersten Satzes, daß der Componist hier, wie ich schon sagte, in die Sonnennähe Beethovens rückt. Ja, wunderbar genug, der Ideengang der Ocean-Symphonie im Großen und Allgemeinen ist völlig analog dem Gange der Beethoven’schen – – Pastoralsymphonie. Ich fühle, daß ich dafür den Beweis schuldig bin, und will ihn zu geben suchen. Beethoven hält folgenden Ideengang ein: er nennt das erste Stück „Erwachung heiterer Empfindungen bei der Ankunft auf dem Lande“ – in dem aufathmenden Entzücken, das dieser Satz ausspricht, werden wir in die blühende Weite der Gegend gleichsam nach allen Seiten hinausgeführt, wir verlieren uns