Seite - 159 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

159 April 1872 190 195 200 205 210 215 220 225 230 hier gleichsam selbst, in der so weiten, weiten und so schönen Welt – es ist hier nur erst der Schauplatz des Folgenden gegeben. So giebt uns Rubinstein in seinem ersten Satze nur den Ocean als solchen, als Schauplatz des Folgenden, ein unge- heures Naturbild! Wo mancher Andere uns gleich kopfüber in den Atlantischen Ocean oder ins Stille Meer gestürzt hätte, beginnt Rubinstein, wie Beethoven, ganz bescheiden und anspruchslos, er versetzt uns, wie Beethoven, gleich mit dem glücklich erdachten Motiv in die rechte Stimmung und steigert, wie Beethoven, den Eindruck mehr und mehr, bis zum Ueberwältigenden. In der „Scene am Bach“ wird bei Beethoven schon die Reflexion laut, wem kann sie angehören als einem einsamen Wandler (ich denke Beethoven selbst), der am rieselnden Bach unter dem Dache grünender Bäume im traulichen Thale (es liegt zwischen Nußdorf und Grinzing in natura da!) gedankenvoll hinwandelt und den hundert Naturstimmen horcht, die um ihn laut werden. So ist auch bei Rubinstein der zweite Satz träume- risch reflectirend – ich sehe ihn selbst, Rubinstein, über den Schiffsrand gebeugt, unter dem weiten Sternenhimmel, Vater Okeanos scheint zu schlafen und zu träu- men, aber wenn er sich einmal im Schlafe regt, aus dem Schlafe murmelt, so ahnen wir erschreckt die furchtbare Naturmacht! Am Ausgang des Thales tritt Beethoven in ein „fröhliches Zusammensein der Landleute“ – vom einsamen Wandler erwei- tert sich unser Ausblick auf ein ganzes Volk, das zugleich die ganze, im Mai sich erfreuende Menschheit repräsentirt. Wie sie tanzen, wie sie jauchzen, wie bur- lesk-komisch plötzlich der Zweiviertel-Takt in den Dreiviertel-Takt hereingepoltert kömmt! Und Rubinstein? Landleute zu Meer („Seebauern“, so wie man sagt „See- löwen“ u. s. w.) giebt es nicht, aber Matrosen. Die Bursche machen sich auf ihrem Schiffsverdeck einen guten Tag – sie tanzen auch: wie gutgelaunte Seebären und Wallrosse lassen sie sich an. Beethovens Bauern sind völlig graciös gegen diese wild stampfenden, wild hüpfenden Gesellen. Der derbe, gesunde Humor dieses Satzes ist in seiner Art merkwürdig. Und nun läßt Beethoven den Tanz durch ein Gewit- ter unterbrechen, das die kleinen Menschen da an ihre Ohnmacht gegenüber den losgelassenen Naturkräften gewaltig und ernst mahnt. Dieses Gewitter (einer der erstaunlichsten Tonsätze Beethovens) ist der Wen- depunkt und die Katharsis der Pastoral-Symphonie. Rubinstein – nun, der wird jetzt wohl, ganz analog, einen Seesturm bringen! Es zeigt den feinsten, richtigst empfindenden Künstler- und Dichtersinn, daß er es nicht thut. Der Sturm auf dem Ocean, nach allem Vorhergehenden – der Componist fühlt sehr gut, daß es nach dem Gewaltigsten nicht, im Comparativ, ein Gewaltigsteres (oder gar ein Gewaltigstestes) geben könne. Das Kunstwerk hat seine Grenze, welche richtig einzuhalten eben Sache des feinfühligen Künstlers bleibt. Statt des Sturmes bringt Rubinstein zwei eingeschobene Sätze, einen schöner als den anderen; den ersten, langsamen, könnte man kurz überschreiben „Wind und Welle“ – der andere ist ein geistvolles, in seinem Humor sehr lebendiges und dabei edles Scherzo, das der Componist jener früheren, roheren Matrosenlust als Replik mit sehr richtiger Ein- sicht entgegenstellt. Bei Beethoven lenkt das Gewitter, das friedlich und segen- spendend vorübergezogen, die Blicke nach oben, die frohen und dankbaren Gefühle nach dem Sturme, ein herrlich-feierliches Dankgebet der Landleute schließt das Werk ab. Mit erquicktem Aufathmen in der weiten Natur fing das