Seite - 162 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

162 Mai 1872 20 25 30 35 40 45 50 55 60 lobten, einen kleinen, unansehnlichen Burschen, vorstellte, fragte die Dame ver- wundert: „Warum hast du dir denn nichts Besseres ausgesucht, Liese?“ „Ja“, erwie- derte Liese, „ja, Eure gräflichen Gnaden, was kann man denn für zehn Gulden Großes verlangen?“ Aber selbst wenn die neue Gesellschaft uns eine zweite Patti, einen zweiten Graziani u. s. w. brächte (wovon sie sehr weit entfernt ist), würden wir sie kaum mit sehr freudigem Herzen begrüßen. Es ist mit der italienischen Oper, auch bei der allervortrefflichsten Darstellung, wie mit gewissen exquisen Leckereien: mäßig und zwischendurch genossen munden sie gar wohl, wer aber ohne Ende mit Trüffelpasteten u. s. w. verköstigt werden wollte, würde bald genug nach einfacher, solider, gesunder Hausmannskost seufzen. Wenn kleinere Theater, die recht eigentlich auf die reizende, geistreiche Spieloper, wie Aubers „Maurer“, „Fra Diavolo“, Boieldieu’s „Neuer Gutsherr“, Mehuls „Une folie“ und auf Aehnli- ches angewiesen wären und sich durch Pflege dieses Genre wahre Verdienste er- werben könnten, uns ewig den Cancan Offenbachs vortanzen und uns dazwischen zur Abwechslung mit Verdi als etwas „Höherem“ regaliren, so bleibt es allerdings problematisch, ob und inwieweit man ihnen nachrühmen darf, daß sie für wirkli- che Geschmacksbildung und Geschmacksveredlung sorgen. Doch kommen wir zu Herrn Franchetti’s Operngesellschaft zurück. Sie hat eben in Bukurest gespielt, mit „glänzendem“ Erfolg, wie man uns gleich im vorhinein zu unserer eigenen Darnachachtung zu lesen gegeben hat. Bukurest ist lange kein Wien und Signora Amelia Fossa lange keine Adelina Patti, aber es klingt doch immer sehr schön, wenn es heißt: in dem und dem Theater ist italienische Oper und wenn der Thea- terzettel Namen auf ini, ani, oni, esi und etti zeigt. Gleich die erste Vorstellung der Gesellschaft Franchetti, oder sagen wir lieber Patierno, ließ uns erkennen, daß sie wenigstens in Einem Punkte mit der Gesellschaft Patti wetteifern können, im Nichteinhalten der angesetzten Anfangsstunde. Es dauerte ziemlich lange, ehe das Orchester den bei den modernen italienischen Operncomponisten, wie es scheint, unvermeidlichen Trauermarsch-Anfang der Symphonie losließ und uns sofort in das schöne Italien versetzte, wo bekanntlich die Theaterorchester fast durchwegs sehr schlecht sind. Gleich die erste Scene führte uns Herrn Patierno vor, der in Wien von früher her bekannt ist und dessen Name in den vorläufigen Ankündigungen mit doppelt großen Lettern gedruckt prangte – der uns also als der Matador der Gesellschaft vorgeführt wurde. Zu den großen italienischen Sängern kann man ihn, trotz der großen Lettern, nicht wohl zählen – neben der Noblesse Nicolini’s (der doch auch noch kein Rubini oder Moriani ist) repräsentirt Signor Patierno derbe Prosa in Erscheinung, Spiel und Gesang. Daß er die Kraftstellen mit kolossaler Stimme singt, wissen wir von früher her, an sich ist die Stimme keineswegs ein Singorgan ersten Ranges, sie entbehrt jenes edleren Zuges, der den Tenorklang erst adelt und erfreulich macht. Wessen Organ diesen edleren Zug besitzt, der hat es allerdings nicht nöthig, zum Ersatze dafür – mit Hamlet zu sprechen – „den Gründlingen im Parterre in die Ohren zu schreien“. Signora Amelia Fossa ist, wie gesagt, lange keine Patti. Sie hat von Hause aus eine Stimme von italischem Timbre, wo es beim ersten Hören scheint, als sei es etwas, bald aber vermißt man Seele, Feinheit, Durchbildung. Die Sängerin hat ein gutes, richtiges Gehör und die Effectmanie-