Seite - 166 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

166 Mai 1872 35 40 45 50 55 60 65 70 75 französische Litteratur, gewöhnt, Verbrecher als Helden, Demimonde-Damen als Ideale höherer Weiblichkeit gefeiert zu sehen, wir haben „Ehrenrettungen“ der Tibere und Messalinen zu lesen bekommen und sehen die reinsten und höchsten Charaktere, von denen die Weltgeschichte zu erzählen weiß, täglich mit Schmutz bewerfen. In der That kann die Kritik, die höhere sowohl als kleinere tägliche (um die der zeitungslesende Kaffeehaussasse, gesetzt, er bete längst nicht mehr ums „tägli- che Brot“, täglich bittet), zu Wagner sprechen wie Gretchen zu Faust: „Ich habe so viel für dich gethan, daß mir zu thun fast nichts mehr übrig bleibt.“ Und sie kann nicht bloß sagen: „für dich“, sie muß auch hinzusetzen „gegen dich“ – womit sie sich freilich nicht besonders empfehlen wird. Fast scheint es also Ueberfluß, hier nun abermals das Wort über Richard Wagner zu nehmen. Aber die persönliche Gegenwart eines hochbedeutenden Menschen (und das ist, mit gütiger Erlaubniß, Wagner denn doch wohl) regt immer wieder zu neuen Betrachtungen an und gro- ße Kunstwerke wie große Künstler bieten einen, wie es scheint, unerschöpflichen Stoff. Ich werde hier kaum noch an das tritum Adagium erinnern dürfen, daß Dinge, über welche viel gestritten wird, welche lebhafte Zustimmung wie gleich lebhaften Widerspruch wecken, Dinge von Bedeutung sein müssen. Auf jeman- den, der eben gewöhnt ist, weil er sich selbst kein sicheres Urtheil zutraut, auf fremde, aber bedeutende Stimmen zu horchen, muß der Wagner-Streit geradehin verwirrend wirken. Da stürzen sich denn Zahllose, resolut und kopfüber, entweder in die maßloseste Wagner-Begeisterung oder in den rücksichtslosesten Wagner- Haß – „wie die Fliegen in den heißen Brei“ würde Simplicissimus sagen. Und fortan ist weder mit dem Begeisterten, noch mit dem Hassenden ein ruhiges und billiges Wort zu sprechen. Ein Gespräch über Wagner, das mit der herkömmlichen gesellschaftlichen Höflichkeit begann, endet sehr oft mit deren Gegentheil. Es ist in sehr vielen, vielleicht in den meisten Fällen eine modern umgeformte Neuauflage des Zankes der Gluckisten und Piccinisten in Paris – man war Gluckist oder Piccinist, weil man in der guten Gesellschaft Gluckist oder Piccinist sein mußte, weil die Geschichte eben Tagesmode war, – man gerirte sich als leiden- schaftlicher Parteimann, vielleicht ohne eine Ahnung über Wesen und Bedeutung des streitigen Punktes, ja ohne jede Befähigung zu einem musikalischen oder über- haupt zu einem Kunsturtheil. Madame de Genlis erzählt in ihren Memoiren, daß man damals in Paris förmlich mit der kurzen Frage angepackt wurde, ob man sich auf die Seite des deutschen oder des italienischen Componisten stelle. Genau wie heut! „Sind Sie Wagnerianer oder nicht?“ ist eine Frage, welche beantworten zu sollen man sehr oft in die Lage kommt und die, wie die Sachen stehen und was man unter einem „Wagnerianer oder Anti-Wagnerianer“ versteht, mit einem blan- ken „Ja“ oder „Nein“ zu beantworten ein ehrlicher Mann, dem es um die Sache Ernst ist und der über die Sache gedacht hat, schwerlich im Stande sein wird. „Sind Sie Wagnerianer?“ das involvirt nach dem Sprachgebrauche und dem Vor- stellungskreise der Fragenden die weiteren Fragen: „Halten Sie Alles, was die Ton- kunst bisher aufzuweisen hat, für schwache, zum größten Theile verfehlte Ver- suche, für bloße Vorstufen der endlich gefundenen wahren Musik; halten Sie Mozart für einen Zopf, Bach für einen Schulmeister u. s. w. und verehren Sie nicht