Seite - 169 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

169 Mai 1872 45 50 55 60 65 70 75 80 85 dramatisch-musikalischen Dichtungen Wagners würden ihnen ihren Weg, ihre volle und warme Anerkennung, ihre Zukunft und ihren dauernden Ruhm auch ohne die widerwärtigen oder bösartigen Zänkereien sicher geschafft haben und jene leidigen, ja verderblichen Consequenzen, welche der mehr als leidenschaftli- che Ton hervorrief, in dem sich die „neue Zeitschrift für Musik“ unter Brendels Regime gefiel, wären vermuthlich ausgeblieben und Wagner hätte die Gegenwir- kung einer erbitterten Reaction vielleicht nie erfahren müssen, wäre die Agitation für ihn eine andere gewesen. Für den Augenblick bewies sich diese Agitation als wirksam. Wenn nun eine aufgeregte Schaar die Fenster plötzlich mit schweren Steinen einzuwerfen beginnt, so laufe ich allerdings sofort ans Fenster und sehe zu, was es giebt, auf die Gefahr hin, daß mir ein Stein an den Kopf fliegt. Wenn z. B. einmal ein bekannter und allgemein geachteter Mann in nichts weniger als bösmeinendem Sinne schrieb: „mit dem „Tann häuser“ hat die Zukunftsmusik bei uns ihren Einzug gehalten“, so griff die Brendelina den unbedeutenden Passus sofort an: „Herr N. ist also ein von der Natur verwahrlostes Individuum, welches den „Tannhäuser“ für Zukunftsmusik hält.“ Pamphlete im schlimmsten Sinne wurden in die Welt geschleudert, wie der „Breslauer Augenarzt“ – allerlei Broschürchen, meist von absolvirten Conservatoristen, Componisten, Pianisten, Hornbläsern u.  s.  w, deren Glaube (an Wagner) um so stärker war, je weniger ihre (musikalischen) guten Werke zu bedeuten hatten, und die sich, gleich Hand- werksburschen auf dem Packbrette fremder Kutschen, hinten an Wagners Tri- umphwagen hingen, hoffend auf diese Art mit in die Unsterblichkeit hineinkut- schirt zu werden. Dieser Lärm hat endlich ein Ende genommen, der Vulcan speit nicht mehr Feuer und ein gewisses neues Musikblatt ist nur noch eine Mofette, welche Dämpfe ausstößt, die nicht zum Besten riechen, an denen aber kein Mensch ersticken wird, wenn er nicht selbst so unvorsichtig ist die Nase hinzuhalten. Gerade jene beson- nenen Verehrer Wagners, denen die Partei „Verkleinerungssucht“ vorwirft, werden einst, wie ich meine und hoffe, vor der Nachwelt glänzend gerechtfertigt dastehen. Jene Besonnenheit ist übrigens nichts weniger als ein farbloses, mattes juste-milieu, man darf den Beurtheiler, welcher so denkt, nicht als „Moderatisten“ verspotten, wie Schiller in einem Briefe an Goethe nach dem Xenienlärm den alten, wohl- meinenden Wieland nennt – man kann von „Lohengrin“ u. s. w. bezaubert, ja hin- gerissen sein und am Ende den Kopf doch oben behalten, was jedenfalls besser ist, als ihn zu verlieren. Wie der Korybantenlärm jener exaltirten Partei sich dann am Ende doch etwas beschwichtigt hat, so verstummen andererseits auch die Vorwürfe der „Orecchianti“ über „Melodielosigkeit“ und „Unverständlichkeit“. Letztere lag wohl für solche Ankläger nur in der ihnen ungewohnten Form des Kunstwerkes und die sogenannte Melodielosigkeit konnten wohl nur jene Leute beklagen, die von einer Oper nicht mehr erwarteten und verlangten, als daß sie für Klavier-Phan- tasieschreiber, Potpourri-Zusammensteller, Variationen-Schmiede, für Abend- musiker von Regimentscapellen und für Walzer- und Quadrille-Componisten ein Dutzend beliebter oder beliebt werdender Motive bringe, wo möglich Motive, die der Hörer gleich nach dem ersten Hören auf dem Heimwege aus der Oper vor sich