Seite - 175 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

175 Mai 1872 100 105 110 115 120 125 130 135 140 das ist ihm in der bewunderungswürdigsten Weise gelungen. Der dithyrambische Rausch oder vielmehr der dämonische Wirbel, der die Scene in ihrer jetzigen Ge- stalt – durchrast, möchte ich sagen, hat in der ganzen musikalischen Litteratur nicht seinesgleichen, hier steht Wagner ohne Rivalen da. Es ist ein Zauber, der übermächtig mit sich fortreißt und zugleich geheimes Entsetzen erregt. Ich denke, daß auf der Bühne die neue Gestaltung von der allergrößten Wirkung sein wird, wozu allerdings etwas Anderes gehört als die herkömmlichen Beinausstreckungen, Renkungen und Schwenkungen und die ohne Ende candis- zuckersüß lächelnden Gesichter der Tänzerinnen unserer Ballette. Die „Tann- häuser“-Ouverture unter Wagners Leitung zu hören ist ein Fest; es ist, als belebe sein Geist das merkwürdige Tonstück bis ins letzte, kleinste Detail hinein. Hieran schloß sich die Einleitung zu „Tristan und Isolde“, uns längst und wohl bekannt. Ich rechne dieses Stück, trotz einzelner überaus schöner Züge, zu dem, was ich in Wagners Musik geistreiche Tortur des Hörers nenne. Wodans Feuerzauber (wobei Herr Kraus das Solo sehr gut sang) schloß das Concert – für uns ebenfalls keine Novität, aber als bedeutendes Stück jedesmal sehr willkommen. Dennoch kann es im Concertsaale nicht die halbe Wirkung machen, die es machen soll und auf der Bühne wirklich hervorbringt. Daß übrigens nicht nur diesem, sondern jedem Stücke endlose, tobende Bei- fallsstürme folgten, braucht kaum noch einer besonderen Erwähnung. Ueber den Erfolg der Trilogie in Bayreuth kann Wagner schon jetzt, nach den neuesten Er- fahrungen, die er macht, ganz ruhig sein. Denn wir haben uns ihm gegenüber bereits auf den Standpunkt gestellt, uns nicht nur jeder Kritik, jeder besonnenen Unterscheidung über größeren oder geringeren Werth des Einzelnen, sondern selbst der Frage nach wirklichem Genuß zu begeben. Das Stück ist von ihm, das genügt, um uns außer uns selbst zu setzen. So viel ist gewiß, daß kein Tonsetzer alter und neuer Zeit, heiße er, wie er wolle, je auch nur entfernt die Huldigungen erfahren hat, wie sie Wagner dargebracht werden. Seinen Anhängern ist das frei- lich noch immer kaum genug. Ist doch jüngst eine Schrift über musikalische Er- ziehung erschienen, deren Tendenz alles Ernstes dahingeht, das heranwachsende Geschlecht in den Schulen zu einer Generation von Wagnerianern zu zügeln, der Glaube an Wagner soll den Kindern noch etwas eher als der sonstige Glaube ins Herz gepflanzt werden. Die Anhänger sind sicherlich fest überzeugt, jenes Tele- gramm: „Du dirigirst und ich komme“, stehe in den Tafeln der Weltgeschichte gleich neben, wenn nicht über Cäsars: Veni, vidi, vici. Man wird also diese be- rühmten drei Worte wohl in Lapidarschrift über das Portal des Bayreuther Thea- ters schreiben dürfen. Ich habe nicht die Ehre, ein antiker Grieche zu sein, und glaube daher nicht an den Neid der Götter. Aber es hat (man verzeihe mir die Schwachheit) für mich etwas Aengstigendes, einen Künstler bei Leibesleben in solcher Art apotheosirt zu sehen. Dem Mimen und auch dem Virtuosen, wenn er weiter nichts ist als Virtuo- se, flicht die Nachwelt keine Kränze und so mag ihm denn die Mitwelt die aller- dicksten und schwersten nach Herzenslust an den Kopf werfen. Anders, wo der Künstler auch der Nachwelt angehört. Diese kann sehr leicht die Acten revidiren und das Urtheil, wenn nicht cassiren, doch in einigen wesentlichen Punkten ab-