Seite - 180 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

180 Mai 1872 15 20 25 30 35 40 45 50 55 hat es sicher kein zweites Concert gegeben, dessen Programm ganz aus Franz Schubert’schen Tondichtungen zusammengesetzt gewesen wäre, als das Monu- ment- und Festconcert am letzten Mittwoch. Man konnte darüber seine Gedan- ken haben. Damals nahm der noch lebende und frisch weiterschaffende Tondich- ter am Concerte persönlich Theil und Publicum und Kritik nahmen von ihm, als einem frisch strebenden Talente, freundlich Notiz; diesmal überragte nur noch das Bild des Hinübergegangenen als kolossale Herme, lorbeergekrönt, zwischen hohen Palmen und frischem Blättergrün die Tonbühne im glänzend erleuchteten Saale und Musiker und Publicum in festlichem Schmuck feierten in erhobener Stimmung das Andenken des unsterblich Gewordenen! Und das überaus zahl- reiche Publicum, welches (trotz der sehr vorgerückten Saison) den weiten Prachtsaal füllte, war wieder einmal das echte, wahre, musikalische Wiener Publicum, die verkörperte musikalische Intelligenz einer der ersten und größten Musikstädte der Welt, ein Publicum, welchem sein Bestes darzubringen für den Künstler eine Freude sein muß, welchem eine gelungene Nuance im Vortrage einen halb unwill- kürlichen freudigen Zuruf entlockt, das die reine Gabe in reinem Sinne entgegen- nimmt und dem gebotenen edlen Genusse mit herzlichem Beifall lohnt, der etwas ganz Anderes ist als das Toben und Wüthen demonstrativen Beifallslärms. Auch uns hat das Concert innig wohlgethan; uns, deren Nerven und Trommelfell von dem drei Tage vorher überstandenen musikalischen Genuß noch bebten, war vergönnt, uns im frischen Morgenthau Schubert’scher Musik wieder gesund zu baden. Und Schubert selbst, der Tondichter von Gottes Gnaden, hätte an dem Concerte auch seine Freude gehabt – er, der in seiner Kunst lebte und webte und athmete, und nichts weiter wollte; naiv, treuherzig und anspruchslos wie ein Kind, und Todfeind jeder Komödianterei, die aus Allem, aus dem zufälligen Niesen eines Zuhörers oder was es sonst sei, sofort Capital schlägt; – fügen wir von den Mit- wirkenden im Schubert-Concerte noch hinzu, daß sie insgesammt eine begeisterte Stimmung beherrschte, so wird kaum mehr nöthig sein zu sagen, warum sich gerade dieses Concert zur schönsten musikalischen Festfeier gestaltete. Das Programm war sehr glücklich und deutlich genug unter dem Einflusse des Umstandes zusammengestellt, daß es der Männergesangsverein war, welcher Fest und Concert veranstaltete, was wir nur billig und zu loben finden. Eine zweite Rücksicht dabei war, nicht bloß Schubert den Liedercomponisten, sondern seine verschiedenen Richtungen überhaupt möglichst durch die gewählten Stücke repräsentirt zu sehen. Hier konnte man nun allenfalls Schubert den Kirchencom- ponisten und Schubert den Theatercomponisten vermissen, aber es war (mit Rück- sicht auf zu besorgende allzu lange Dauer des Concertes) in sinniger Weise gewissermaßen für Ersatz gesorgt, denn der Chor der „Geister über den Wassern“ deutet nach dem Dramatischen so wie das Lied „Die Allmacht“ nach dem Kirch- lichen. Letzteres mächtige Stück sang Frau Wilt ergreifend und mit einem groß- artigen Zuge. Der Vortrag der Männerchöre durch die Herren Vereinsmitglieder – des schon genannten Geisterchors, des „Gondelfahrers“ und des merkwürdig mysteriösen, tief ergreifenden, auch eigen dramatisch gefärbten „Grab und Mond“ und endlich zum Schlusse des „Widerspruchs“ mit von Herrn Herbeck trefflich orchestrirter Begleitung – war ausgezeichnet; besonders in dem Chore „Grab und