Seite - 184 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

184 Mai 1872 65 70 75 80 85 90 95 100 105 in die Lüfte ragen.“ Ueber den „austriacisirenden“ Zug in Schuberts Musik hat noch kaum jemand ein Wort verloren; Schumann ahnte ihn wohl, aber er ahnte ihn eben nur. (Siehe den Aufsatz „Die C-dur-Symphonie“ im Jahrgange 1840 der neuen Zeitschrift für Musik, reproducirt im dritten Bande der gesammelten Schriften.) Und doch ist dieser Zug so entschieden ausgesprochen wie an anderen Stellen der „hungarisirende“, wiewohl letzterer allerdings mehr in die Augen oder, besser gesagt, in die Ohren fällt. Austriacismen und Hungarismen treten vor- züglich in den Instrumentalwerken Schuberts zu Tage. Aus gewissen Trios der Scherzi (A-moll-Quartett, Phantasiesonate u. a. m.) lächelt uns der behagliche, ge- müthliche „Ländler“ vertraulich an, aber in künstlerischer Veredlung. Und nun sehe man vollends diese zahlreichen Hefte voll Walzer und Ländler an (man findet sie in der neuen vortrefflichen Cotta-Ausgabe zu einem Bande ver- einigt), diese unerschöpfliche Fülle von Lust und Jubel – hier erscheint Schubert oft geradezu als der Vorläufer des Walzerfürsten Johann Strauß. Mit Unrecht, scheint mir, macht Bülow zur Beethoven’schen Sonatine op.  79 und dem sie eröff- nenden Presto alla tedesca die Bemerkung: „Es sei interessant zu bemerken, um wie viel genialer, d.  h. männlicher, ohne deßhalb die Anmuth zurückzusetzen, Beet- hoven, wenn ihn die Laune dazu trieb, das charakteristische musikalische Local- moment seiner Wiener Umgebung, den Ländler, zu verwerthen verstand, als Franz Schubert.“ Aber Beethoven erscheint hier am Ende doch als der große Herr, der sich herabläßt, einen Moment zwischen die Thüre des Tanzsaales zu treten und dem tanzenden Volke wohlwollend zuzulächeln, während Schubert, der echte Sohn eben dieses tanzenden Volkes, sich nicht halten kann, mitten hineinzusprin- gen und mitzutanzen. Und dieser selbe harmlos fröhliche Mensch vermag es hin- wiederum die höchsten Höhen zu ersteigen und uns das Wunderbarste zu erzäh- len. Was alles erzählt er uns in seinen Quartetten für Streichinstrumente (auch bei Beethoven das Gebiet, wo er uns sein Tiefstes und Kühnstes bringt) – in dem wunderbar großartigen Quartett in D-moll, in dem, wie sich Gumprecht schön ausdrückt, „in Thränen lächelnden“ A-moll-Quartett – ja, erzählt uns dieser harm- lose, kindlichfrohe Mensch in seinem Quartett in G-dur nicht eine ganze blutige Schmerzensgeschichte, läßt er uns nicht in Abgründe blicken vor denen wir er- schrecken könnten? Welche Schätze bieten uns seine Klaviersonaten! Die große A-moll-Sonate, seine Sonate in D-dur, seine Phantasie in F-moll (in vierhändigem Satz). Was sollen wir von den beiden bisher bekannten Symphoniewerken Schuberts sagen? In all’ diesen Werken ist in gleichem Maße interessant, worin er Beethoven ähnlich und worin er von Beethoven verschieden ist. Der Zug lebensfrischer, star- ker, aber gesunder Sinnlichkeit, der unverkennbar in allen diesen Tonwerken Schuberts lebt, ist keineswegs ihre schlimmste Eigenschaft. Beethoven blickt bei seinem Geisterfluge mit ernstem Auge zu den ewigen Sternen, zu den unendlichen Tiefen des Himmels empor, wo dem Geiste, der überfliegen möchte, endlich die Flügel ermatten müßten. Schubert verliert bei seinem Fluge, indem er lächelnd herabblickt, die schöne Erde mit ihren Blumengärten, Fruchtfeldern und Wein- bergen keinen Moment aus dem Auge. Man spricht in der Optik von complemen- tären Farben – es ist, als ob zwischen Beethoven und Schubert ein ähnliches Ver-