Seite - 185 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

185 Mai 1872 110 115 120 125 130 135 140 145 150 hältniß obwalte. Allerdings aber weiß Beethoven seinen Tonstoff in seinen Symphoniewerken ganz anders zu beherrschen als Schubert, dem die eigene Fülle oft über den Kopf wächst. Beethoven hat auf der Schulbank gesessen; sie war sehr hart und der Titane mag oft genug ungeduldig hin- und hergerückt, ja gelegent- lich etwas Weniges mit den Füßen gestampft haben, aber er blieb sitzen, bis Lec- tion und Lehrstunde aus war. Schubert lernte musikalisch die Regel und das Ge- setz, wie ein Kind die Sprache seiner Heimat lernt und vortrefflich redet, ohne sich nach Grammatik und Syntax über das Gesprochene Rechenschaft geben zu kön- nen. „Er hat’s vom lieben Gott gelernt“, meinte kopfschüttelnd der erste musikali- sche Scholarch, in dessen Zucht und Lehre Schubert kam. Während in Beethoven die Ueberlieferungen einer großen, durch Jahrhunder- te von Generation zu Generation fortvererbten Schule als ein in ernster Arbeit Erworbenes trotz der gewaltig durchbrechenden Subjectivität des Meisters fort- leben, fühlt man bei Schubert recht deutlich durch, wie er dies alles, bis zum fugir- ten Satze hinauf, nicht sowohl aus dem Lehrbuche Paragraph nach Paragraph als durch den beständigen Umgang mit den Werken Haydns, Mozarts, Beethovens erlernt. Aber die wohl absolvirte strenge Schule ist am Ende doch durch nichts Anderes zu ersetzen. Und so weiß denn auch noch Beethoven seine Motive, seine Themen ganz anders zu gestalten als Schubert. Es giebt zwei, wenn man will drei Arten thematischer Durchführung; die eine ältere ist die wesentlich formelle, die contrapunktische, wo das Thema nach den verschiedenen polyphonen Combinationen, die es zuläßt, entwickelt wird – eine wesentlich der Kunstform als solcher angehörige Richtung – einer Form freilich, bei welcher nichts im Wege steht, so viel Geist hineinzupacken, als darin Platz hat. Die zweite Art der Durchführung könnte man die poetisch-charakteristische nen- nen, bei welcher dem Thema die ganze darin latente Ausdrucksfähigkeit durch mannigfache Gestaltungen abgewonnen wird. Die erste finden wir bei Bach, bei Händel und ihren Zeitgenossen, die zweite bei Beethoven. Zwischen beiden steht gewissermaßen als Uebergang Mozart. Es ist bezeichnend, daß er, nach vorliegenden Berichten, beim Phantasiren verstanden haben soll, ein Thema bald majestätisch und prächtig, bald scherzhaft, bald klagend und trauervoll vorüberzuführen – die Form der Variationen mit ihrem wechselnden Charakter war schon ein Wegweiser dahin. Bei Beethoven fin- den wir diese Art von Durchführung auf ihrer Höhe. Statt alles Anderen möge man sich nur z. B. der thematischen Arbeit im ersten Satze der Eroica, der Pasto- ralsymphonie, der neunten Symphonie, der Klaviersonate op.  106, des F-dur-Quar- tettes op.  59 (Nr.  1) erinnern. Die dritte Art von Durchführung – es ist die moderne – begnügt sich, das Thema, ohne es wesentlich zu verändern, in allerlei wechselnde Beleuchtung zu rücken, es in allerlei wechselndes Farbenspiel (wozu vorab die Instrumentirung das Meiste und Beste thun muß) zu bringen. Den Zug dahin spürt man in Schuberts Instrumentalsachen schon deutlich genug. Sehr treffend bemerkt Gumprecht: „Während Beethoven durch rastlose Verarbeitung und Um- bildung die Kraft und den Reichthum seiner Motive immer höher steigert, tritt bei Schubert oft der umgekehrte Fall ein. Fast alle Schubert’schen Themen sind von Haus aus so fertig, liedartig in sich beruhend und abgeschlossen, daß sie ihrem