Seite - 189 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

189 Mai 1872 55 60 65 70 75 80 85 90 95 tief ernste, großartige Natur, sah und erkannte recht gut, daß der italienische Opernstyl unter den Epigonen Cimarosa’s der flachen Unbedeutendheit, der geis- tigen Oede und langweiligen Manier entgegeneile; daß schon (seit 1804) ein junges Genie in Bologna studire, berufen das Ausgelebte mit dem frischesten, sprudelnds- ten Geist neu zu beleben – ich meine Rossini – konnte Cherubini damals nicht ahnen. Cherubini flüchtete zur großen und größten Epoche seiner vaterländischen Musik zurück, er schrieb bewundernswerthe Kirchenstücke im Capellastyl, in denen die großen Meister des 16.  Jahrhunderts wieder aufgelebt zu sein scheinen, keine archaistischen Nachahmungen, sondern Alles in frischer Kraft und geistiger Ursprünglichkeit. Zugleich aber zog ihn, und vielleicht noch stärker, eine geistige Wahlverwandtschaft (diese von Goethe auch für die sittliche Welt in Anspruch genommene Naturmacht) zu den deutschen Meistern. Joseph Haydn liebte er, wie bekannt, über Alles, aber fast scheint es, als habe Mozart diese Vorliebe Cherubini’s mit Haydn theilen dürfen. Ich habe in Florenz bei einem Gassenantiquar neben dem Palazzo Riccardi für einige Groschen das Manuscript (nicht Autograph) einer Klaviersonate zu vier Händen „del Sign. Luigi Cherubini per l’uso delle sorelle Sborgi“ gekauft, welches ich wie ein Cimelion bewahre; diese Composition, augen- scheinlich ein Jugendwerk, erscheint wie ein blasses, aber ganz entschiedenes Nachbild der trefflichen vierhändigen Klaviersonaten Mozarts. So klingt aus man- chen Stellen des herrlichen, geistsprühenden Terzettes im „Wasserträger“, aus dem folgenden leidenschaftlich belebten Duo Constanzens mit Armand, aus dem auch in der Klangwirkung höchst prachtvollen Finalensemble „Gütige Gottheit, welch Entzücken!“ in ganzen langen Stellen die echte, mit nichts Anderem zu verglei- chende Mozart’sche Diction und wiederum gar nicht wie manieristische Nach- ahmung, sondern wieder wie aus erster Quelle. Weder von der Vaudeville- und Chansonetten-Manier der französischen opéra comique hat Cherubini etwas, noch von dem solenn-declamatorischen Kothurnschritt, [in] dem die französische tragi- sche Musik seit Lully und Rameau wandelte, dem sich auch Gluck in Paris nicht entziehen durfte und den dann Spontini gleichsam die wohlbekannten, stark thea- tralischen „königlichen Stellungen“ Talma’s annehmen lehrte. Zumeist an Franzö- sisches klingt im „Wasserträger“ noch die Idylle des dritten Actes in Gonesse an, die allerdings nach den unabweisbaren conventionellen Vorstellungen der damali- gen Pariser guten Gesellschaft von ländlicher Sitteneinfalt und ländlicher Un- schuld gemodelt ist. Die Strophenlieder und Romanzen sind in der Form vom Dichter aus echt französisch, nicht so vom Componisten. Der Schlußgesang, mit dem die Oper ursprünglich endet (hier wurde das „güt’ge Gottheit“ aus dem ers- ten Act als Abschluß beliebt), mag endlich an die Form des Vaudeville’s wenigstens anklingen; aber auch Mozart schließt die „Entführung aus dem Serail“ mit der- selben und zwar noch weit ausgesprochener hervortretenden Form. Als kleines musikhistorisches Curiosum wollen wir nicht unbemerkt lassen, daß der „Wasser- träger“ die erste Oper mit einem durch das Ganze hindurchgehenden „Rettungs- liede“ ist, wie später Aubers „Maçon“ – beiläufig: warum liegt denn dieses reizende Ideal einer komischen französischen Oper (für diese so sehr Ideal wie für die italie- nische Rossini’s „Barbier“) so ganz und gar in unverdienter Vergessenheit?! – Wir wollen endlich nicht übersehen, daß zu dem sehr guten Erfolge des „Wasserträgers“