Seite - 190 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

190 Mai 1872 100 105 110 115 120 125 nebst der vortrefflichen Musik und der ausgezeichneten Aufführung auch Bouilly’s anziehendes Textbuch das Seinige beitrug. Meint doch Goethe, nichts sei auf der Bühne wirksamer als „Schelmenstreiche zu guten und löblichen Zwecken“, und er steht nicht an, den „Wasserträger“ für das „vielleicht glücklichste Sujet“ zu erklä- ren, „das man je auf die Bühne gebracht“. Wir möchten uns bei allem schuldigen Respect vor dem großen Dichter besinnen, diesen Ausspruch so ganz unbedingt zu unterschreiben. Die glückliche Lösung des Knotens im letzten Acte, gerade im Moment, wo Alles verloren scheint, ist wenigstens so eilig und willkürlich wie z. B. die eben so unmotivirte Großmuth des Pascha Selim in der Entführung. Was stand dem entgegen, daß Micheli nicht erst im letzten Act, sondern schon früher, z. B. während der langen Ouverture, zum König eile und beim Aufziehen des Vor- hanges sich gegen die Zuschauer mit der Anrede wende: „Hochgeneigtes Publi- cum! Mit wahrem Vergnügen darf ich Ihnen mittheilen, daß der Proceß gegen den edlen, unschuldig verfolgten Grafen Armand durch ein Machtwort des Königs niedergeschlagen und alle Gefahr vorüber ist.“ Micheli verneigt sich, der Vorhang fällt, das Publicum geht. So hätte die Sache auch nichts verloren, eher das Ge- gentheil, wenn uns Bouilly statt der physiognomielosen Feinde Armands, die wir mit keinem Auge zu sehen bekommen, statt des ungenannt bleibenden Königs und Ministers den historischen Hintergrund bestimmter ausgemalt hätte. Man muß schon recht sehr in der Geschichte bewandert sein, um aus diesen schüchter- nen Andeutungen über „proscribirte Parlamentsmitglieder“ zu errathen, daß wir uns in der Zeit Ludwig  XIII. und des Cardinals Mazarin befinden. Oder war es, wenn Bouilly beide ungenannt ließ, eine ähnliche Rücksichtnahme, wie wenn z. B. Manzoni den Bernardin Visconti in seinem berühmten Roman nur als l’innominato einzuführen wagt? Wir wollen aber nicht kritteln, – Micheli’s Bieder- keit, Herzlichkeit und schlaue List, Constanzens opfermuthiger Sinn, Antonio’s heiteres „Naturburschenthum“, Marcellinens mädchenhafte Naivetät und die ganze, bald ängstlich spannende, bald rührende, bald erheiternde Handlung wer- den gefallen, so lange noch menschlich empfindende Zuseher für Bouilly’s und Cherubini’s Werk zu finden sein werden. A. W. Ambros. Rezensierte Veranstaltung Cherubini, Der Wasserträger, 25. Mai 1872, Hofoper Erläuterungen 5 Gelehrten der Brendelina] → Nr. 39/Erl. zu den Z. 52–57. ◼ 14 nicht so schnell … ver- schwinden werde.] Es blieb bei der einen Aufführung am 25.  Mai 1872. Zu einer Neueinstudie- rung kam es erst 1877. ◼ 31 Cherubini’s Oper … Jahre ältere] uraufgeführt 1800 (die erste Fassung von Beet hovens Fidelio wurde 1805 uraufgeführt). ◼ 68f. Klaviersonate … Sborgi“] Sonata per Cimbalo a quattro Mani. Die Abschrift befindet sich heute in: A  Wn, Sign. Mus. Hs.41393Mus. ◼ 69 Cimelion] Kleinod. ◼ 79 Kothurnschritt] hier: der hohe Pathos (Kothurn – Schuh mit hoher Sohle, getragen von den antiken Tragödienschauspielern). ◼ 82 Talma’s] François-Joseph Talma (1763–1826), frz. Schauspieler; berühmt durch die historische Treue seiner Darstellung. ◼ 98f. Bouilly’s anziehendes Textbuch] Jean-Nicolas Bouilly (1763–1842),