Seite - 192 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

192 Mai 1872 35 40 45 50 55 60 65 70 75 Aehnliche sind dafür bedeutende Beispiele. Es ist bei den Liedercompositionen Schuberts oft, als habe das Wort, das Bild, welches uns der Vers des Dichters bringt, irgendwo auf dem unabsehbaren Gebiete der Musik ein Gegenbild gehabt, das gar nichts Anderes ist als eben das Wort, das Bild, aber in Töne übersetzt – und als sei es nur die Aufgabe des Componisten gewesen, unter dem Zahllosen gerade dieses Eine, Rechte zu ergreifen, und als sei es Schubert gegeben gewesen, es jedes- mal mit leichter, sicherer Götterhand herauszuholen. Wie wunderbar fein charakterisirend Schubert ins Detail zu malen versteht, hat schon Schumann hervorgehoben: „er hat Töne für die feinsten Empfindungen, Gedanken, ja Begebenheiten und Lebenszustände“. Die Anregung, welche man durch Schubert’sche Musik (auch und besonders durch seine Instrumentalmusik, wo kein Texteswort directe Vorstellungen weckt) zu visionenhaften Bildern erhält, ist erstaunlich, selbst wenn man sonst erklärter Feind der leidigen Manier ist, in die Musik mit ihren unbestimmten Klängen ganze Historien und Novellen hi- neinpoetisiren zu wollen. Als Schumann mit einem musikalischen Freunde einen Schubert’schen Marsch zu vier Händen spielte, trafen beide, einer unabhängig vom Anderen, in der Vorstellung überein: sie seien in Sevilla, aber vor mehr als hundert Jahren, Dons und Donnas spazieren auf dem Platze umher u. s. w. Mir selbst ging es ähnlich, als ich mit einem musikalischen Freunde das treffliche vier- händige Arrangement des D-moll-Quartettes (von C.  Hübschmann) spielte. Wir kamen zum Ende der Variationen, denen, wie bekannt, ein Thema das Lied: „Der Tod und das Mädchen“ zu Grunde liegt. Bei dem Pianissimo, zwölf Takte vor dem Schluß, fragte ich: „Siehst du nichts? wahrhaftig, ich sehe am fernen Horizont ein leichtes Wölkchen, das sich in hellem Rosenlicht verklärt – da schwebt aber der Tod mit der Seele des Mädchens davon.“ Mein Freund fuhr in die Höhe: „Ja, wahrhaftig, du hast Recht – ich sehe es auch!“ Bei dem ersten Stücke des B-dur-Quartettes ist es kaum möglich, nicht an einen Herbstabend am traulichen Kaminfeuer zu denken, draußen aber saust der Herbstwind in den Bäumen und peitscht den Regen gegen die klirrenden Fenster. Es ist zum Erstaunen, wie Schubert intuitiv mit dem divinatorischen Takt des Genie’s Dinge bringt, denen er leibhaft im Leben nie begegnet. Man streiche mir folgendes kleine Beispiel nicht weg: in dem Chore mit begleitendem Klavier „Gondelfahrt“ weiß Schubert nicht nur die eigene träumerische, behagliche Stim- mung, die uns auf dem Wasserspiegel des Canalgrande oder vor der Riva in der gleich einer Wiege schaukelnden Gondel überkömmt, das Vorbeiziehen von Bild nach Bild herrlich zu treffen, sondern er trifft auch, wo vom Glockenschlag der Uhr von S. Marco die Rede ist, durch eine sinnige, accordliche Combination der Klavierbegleitung bis zur vollkommenen Täuschung den Klang, den die ehernen Riesen der Mercerie allstündlich über Venedig hindröhnen lassen – und doch war Schubert nie in Venedig. Oft wurde ihm die exoterische Tonmalerei esoterisch zum Symbol der Seelenbewegung, so malt in dem „Meine Ruh’ ist hin“ die un- ruhige Bewegung des begleitenden Klaviers nicht bloß Gretchens rollendes Spinn- rad, sondern auch das leidenschaftliche Pochen ihres Herzens – so ist im „Leier- mann“ („Winterreise“) der monotone Baß zunächst die naturtreue Nachahmung des Bourdonnirens der Drehleier, aber auch das unheimliche Bild des starr vor sich