Seite - 198 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

198 Juni 1872 40 45 50 55 60 65 70 75 80 zuweisen, wobei denn weiters ein Blick auf Thorwaldsen und Carstens geworfen werden müßte und auch auf Goethe, welchen Homer zur „Achilleis“ und (was besser) zu „Hermann und Dorothea“, Properz zu den Elegien begeisterte u. s. w. Ein neuer Lessing könnte an Goethe’s und an Glucks „Iphigenia“ die Grenzen der Poesie und Musik so rein und scharf (und hoffentlich etwas besser, als es meiner Wenigkeit vor Jahren gelingen wollen) ziehen, wie der alte Lessing es am „Laokoon“ für Dichtkunst und Malerei gethan. Um nur Einiges hervorzuheben, wie z. B. Goethe mit Recht nur den einen schlichten, biedern, wohlmeinenden Arkas, den Vermittler und Rathgeber (gleichsam den zu einer einzigen Person condensirten Chor), vorführt, Gluck aber mit gleichem Rechte eine ganze Horde nichts weniger als wohlmeinender Scythen mit wildem Gesang und barbarischem Tanz; wie sich Goethe begnügt, an die Furien als an ein Phantasiebild Orestes’ zu erinnern, Gluck aber uns durch seinen furchtbaren Furienchor unmittelbar und persönlich er- schreckt und erschüttert, wie Goethe den Knoten durch das moralische Motiv der zarten Wahrheitsliebe Iphigenia’s und durch die sinnige Deutung eines Götter- spruches („bringst du die Schwester, die an Tauris’ Ufer im Heiligthume wider Willen bleibt“ u. s. w.) löst, Gluck aber oder sein geschickter Dichter Guillard (nach einer antiken Version) durch den einen glänzenden musikalischen Moment bietenden Zug, daß der noch unerkannte Orest am Altar, da das Opfermesser blinkt, sich erinnert: „wie Iphigenia, die theure Schwester, in Aulis einstens ward geopfert“ – und die Priesterin und den Bruder erkennt; wie überhaupt in jener Oper Glucks immer unmittelbar auf die Sinne oder auf das Gemüthsleben einge- wirkt wird, während die zarte Seelenschönheit der Goethe’schen Iphigenia immer- fort durch sinnige Reflexion in edelster Rede uns entgegengebracht wird. Ja es könnte die eine Scene allein, wo Iphigenia dem Thoas die furchtbare Geschichte ihres Stammes erzählt (Act  1, Scene  3), und jene andere zum Schlusse des zweiten Actes bei Gluck, wo Iphigenia durch Orest das Los ihres Vaters Agamemnon, Klytemnästra’s u. s. w. erfährt, dem erwünschten neuen Lessing genügen, seine Aufgabe zu lösen. Wenn man nun aber bei Werken, welche so sehr den reinen Stempel der ewigen Schönheit und Wahrheit an sich tragen, wie Glucks musikalische Dramen, wohl gar von „veraltet“ sprechen will, so kömmt mir das vor, wie wenn jemand die Göttersäle des Vatikans mit der flüchtigen Bemerkung durchliefe, „diese Marmorfiguren seien veraltet“. Und im Grunde sind sie es auch. Denn jedes Kunstwerk trägt die Signatur der Zeit, in welcher es entstand, und muß sie sogar tragen, soll es anders ein wahres, lebendes Kunstwerk sein. Aber über jene Signatur hinaus muß uns aus dem Kunstwerke ein ewig Gültiges und darum ewig Lebendes ansprechen, dann bleibt es lebend. Der Parthenon und das Erechteion haben mit dem Untergange des antiken Göttercultes (ja des atheni- schen Localcults) ihre Bedeutung verloren, aber es wird keinem Menschen ein- fallen, ersteren etwa zu einer modernen Bierhalle, letzteres zu einem modernen Kaffeehaus „restaurirt“ sehen zu wollen, und Künstler und Laien werden hintreten und selbst noch vor den Trümmern entzückt der reinen, ewigen Schönheit gegen- überstehen; und der Künstler wird sein Talent an diesen hohen Denkmalen klären und reiche Anregung finden. Lebt doch, z. B. ein sehr großer Theil des neuesten architektonischen Wien von den paar Motiven des Erechtheions wie die fünftau-