Seite - 205 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

205 Juli 1872 20 25 30 35 40 45 50 55 60 ein gedrucktes (deutsches) Liederbuch aus der zweiten Hälfte des 17.  Jahrhunderts, dessen Poesien (wenn man das Wort hier anwenden darf) durch ihren Inhalt zum Theile von nicht unbedeutendem Interesse sind so wie die in Musiknoten bei- gesetzten Melodien für die ohnehin bisher etwas karg bedachte Geschichte des deutschen Liedes im genannten Säculum ihren Werth haben. Wie ich zu der werthvollen Scharteke gekommen? In einem mir befreundeten Prager Hause wurde einmal unter allerlei uraltem Papiergeniste, das unter dicken Staubschichten auf dem Dachboden des Hauses eine Art von papierenem Monte Testaccio bildete, „fürchterliche Musterung gehalten“. Neben vergilbten alten Haushaltungsrechnungen, längst bezahlten Conti, unmöglichen Küchen- und dergleichen medicinischen Recepten, einem stark defecten Exemplar der „durch- lauchtigsten Syrerin Aramena“, oder was es sonst für ein verschollener Roman ge- wesen sein mag, und ähnlichen Dingen kam auch die poetisch-musikalische Anti- quität zum Vorschein. „Sie ist gerichtet“, sagte der Hausknecht, der die Papierlast wegschleppen wollte – „ist gerettet“, rief die Stimme der liebenswürdigen Tochter des Hauses dazwischen – sie gedachte des musikarchäologischen Freundes, der, wenn er in einer verkehrten Zukunftswelt in einen zoologischen Garten gesteckt würde, sicher die Explication mitbekäme: „Hier sehen Sie, meine Herren, die Hyæna codicivora musica – sie gräbt auf den Friedhöfen der Archive und Biblio- theken die Gebeine verstorbener Musikalien aus und nährt sich davon – noch lebende Musik greift sie selten und nur im Nothfalle an.“ Genug, die Rarität wurde mir als freundliches Geschenk überbracht. Der Titel des in sehr kleinem Octav gedruckten, 162 Seiten starken Büchleins lautet: „Ehrliche Gemüthserquickung, das ist: unterschiedliche annehmliche Ge- sänger, mit trostreichen sittlichen Lehren untermischet, sambt beygesetzten Melo- deyen, von neuen gemacht und zusammengetragen. Gedruckt im Jahre 1677.“ Die Vignette ist in Holzschnitt, eine stehende, bekleidete weibliche Figur mit einem langen Lorbeerzweig in der rechten, einer Fahne in der linken Hand; sie steht in einer Landschaft mit Ausblick auf entfernte Gebirge und eine Meeresbucht. Weder C.  F. Becker (die Tonwerke des 16. und 17.  Jahrhunderts), noch ein anderer Samm- ler und Forscher weiß etwas von dieser Liedersammlung. Dichter und Componist haben sich nicht genannt, auch der Druckort ist nicht angegeben, letzterer war aber, wie mannigfache Anspielungen in den Texten mit Zuverlässigkeit erkennen lassen, Wien. Das Lied Nr.  24 hat die Ueberschrift „Frau Unfried, gebohrene von Pentzing“ (sie ist als grimmiger Hausdrache geschildert) und in der als nächste Nummer folgenden Replik der „auffbocherischen Hauß-Magd“ (sie singt ihre re- solute Antwort auf das Kriegslied ihrer ungnädigen Frau nach der selben Melodie wie diese) heißt es: „habt ihr ja ein ewig Wetzen, könt von pentzen nit aussetzen“ u. s. w. Der Wiener Localausdruck „pentzen“ für zanken, quälerisch nergeln und schelten und die wortspielende Erwähnung des Ortes Pentzing bei Wien können sich kaum anderswoher schreiben als von Wien selbst. Die Hausmagd meint: „Frau, sey GOtt Dank, hat das Khötz einmal ein End, komm euch nicht mehr in die Händ“ u. s. w. Dieses „Khötz“, d.  i. Gehetz’, – will sagen hastig- unruhiges Ab- mühen und Arbeiten, kann sprachlich seinen echt wienerischen Ursprung nicht verläugnen, während Frau Unfried, nachdem sie der Magd das Scheltwort „ey Du