Seite - 207 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

207 Juli 1872 105 110 115 120 125 130 135 140 Weint mit mir, ihr nächtlich stillen Haine, zürnt mir nicht, ihr morschen Todtenbeine, wenn ich euch in eurer Ruhe stör’! ach, es wohnet hier in eurer Mitte ein Mädchen sanft und voller Güte, ach von ihr getrennt zu sein ist schwer! so klingt diese Siegwartiade wohl nicht so gar unbeholfen altfränkisch; aber die Züge des poetischen Ururgroßvaters von Anno 1677 sind in den Zügen des moder- nen poetischen Ururenkels unschwer zu erkennen. Unser Liederbuch verkündigt in einigen auf der Kehrseite des Titelblattes ge- druckten Versen „an den Leser“ seine Tendenz, gleichsam sein Programm: Tugend lob ich Laster straff ich wer soll mir diß verbieten, der fromb ist bscheid der böß bei zeit vor unheil sich kan hieten, auß keinem Neyd keinem zu Leyd will allen in gmein rahten der etwas meldt und wider bellt der hat sich selbst verrathen. Man sieht, daß das vorsichtsweise Mitgeben von Lucas-Zetteln und Amuletten gegen etwaige Recensentenangriffe und die Wunden, welche dem Autor und sei- nem Werke geschlagen werden könnten, zu allen Zeiten üblich gewesen. Suchen sich doch auch noch unsere Autoren auf diesem „nicht ungewöhnlichen Wege“ in der Vorrede gegen derlei Anfälle zu sichern! Der moralisirende Zug, den obige Verse ankündigen, ist für die Liederpoesie des 17.  Säculums kennzeichnend – in dem bedeutendsten Werke dieser Art, zu dem das Wiener Liederbuch ein aller- dings viel bescheideneres und geringeres Seitenstück bildet, in dem „poetischen Lustwäldlein, das ist Arien oder Melodeyen etlicher theils geistlicher, theils welt- licher, zur Andacht, guten Sitten, keuscher Liebe und Ehrenlust dienender Lieder“ von Heinrich Albert, dem Vater des monodischen deutschen Liedes (geb. 1604 zu Lobenstein, gestorben 1651 in Königsberg) kündigt sich die ähnliche moralisirende Tendenz laut genug schon auf dem Titelblatte an und im Buche selbst begegnen wir Dingen wie einem moralischen Gespräch zwischen einer Jungfrau und einem welkenden Rosenstock, einer „Rede einer todten Jungkfrawen auß dem Grabe“ – greulich genug anzuhören – der „Rede einer ehemals hoffährtigen jetzt gleich ster- benden Jungkfrawen“ die sich gleich in den allerersten Worten mit dem kräftigen Ausdrucke bezeichnet: „ich armer Madensack“ u. s. w. Es liegt auf dem Jahrhun- dert des dreißigjährigen Krieges, dem Jahrhundert der Allonge-Perücke und des