Seite - 208 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

208 Juli 1872 145 150 155 160 165 170 175 180 185 „alamodischen“ Wesens, ein eigener dumpfer, erstickender Druck, der gegen die frische Fröhlichkeit, die derbe Gesundheit des vorhergegangenen Renaissance- Jahrhunderts merkwürdig absticht. Engbrüstig ängstliche Frömmigkeit wird sehr absichtlich überall hervorgerückt, dazu ein bis zum Ekelhaften grasses Coquetti- ren mit Grab und Verwesung, um der „Welt Eitelkeit“ zu strafen, und hart da- neben „galante“ Verse, Liebeslieder höchst sinnlicher Färbung, aber nicht etwa naiv-unbefangen, wie zuweilen in der antiken und mittelalterlichen Poesie, son- dern kleinlich-lüstern und wahrhaft anwidernd – um desto widerwärtiger, je pedantischer und unbeholfener die Form ist, in welcher diese Lascivitäten vor- gebracht werden. Man muß es unserem Wiener Poeten von 1677 zur Ehre nachsagen, daß er sich von dergleichen ganz rein hält. Sonst braucht er allerdings zuweilen sehr derbe und ungenirte Ausdrücke, die heutzutage keines Salons Schwelle passiren dürften. Die erzürnteste moderne Wiener Hausfrau würde, gesetzt auch, die Magd hätte ein Service von chinesischem Porzellan in Trümmer geschlagen oder über das neue Seidenkleid der Gnädigen ein Tintenfaß ausgeschüttet, sich niemals zu der energi- schen Oratorie der Frau Unfried gebornen von Pentzing erheben oder vielmehr zu ihr herabsinken. Unser Wiener Poet beginnt mit religiösen Gesängen. „Mein Gott und Alles“ heißt die Ueberschrift des ersten Liedes; das zweite lobt die „Beständigkeit des geist- lichen Vorhabens“, im dritten präsentirt sich ein „büßender Sünder“, das vierte warnt vor „irdischer Unbeständigkeit“. Bemerkenswerth darf heißen, daß in diesen Liedern kein confessionell charakterisirender Zug hörbar wird, was angesichts der Richtung des damaligen Wiens auffallen mag. Nach den Liedern der Andacht kommen Lieder der Lebensklugheit; der „falsche Freund“ wird gescholten: Falscher Gesell, fuchsfarber Art Laß ab von so vill prallen Freundschaft liegt (lügt) dein Judasbart Dein Hertz ist voll der Gallen, Scheint als ob all’s redlich wer Falschheit leicht den Anstrich her. Lauter fein auffkrauste Wort Seynd dir längst angebohren Bin dein liebster Mit-Corsort Den du auß viel erkohren, Wer da will betrogen seyn Mach sich nur mit dir gemein. Kein Parola, kein Credit Kein Mensch mag dir vertrauen, Auch sogar ein S–stall nit Sollt man auff dein Wort bauen u. s. w.