Seite - 216 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

216 Juli 1872 60 65 70 75 80 85 90 95 100 Richter einschärft: „was nicht in den Acten ist, ist nicht in der Welt“, scheint das Publicum im Ganzen und Großen zu denken: was nicht im Concerte gespielt oder gesungen worden, existirt nicht. Ist es aber gespielt und gesungen worden, dann ist die Wirkung augenblicklich und ausgiebig. Rubinstein spielt das reizende kleine Stück Schumanns „Vogel als Prophet“ mit hinreißender Poesie des Vortrags und siehe, er macht damit das ganze Heft flott, in welchem es steht: die „Waldscenen“. Dieser musikalische Nachahmungstrieb hat sein Gutes, aber auch sein Schlimmes. Denn der Virtuose spielt im Concert gar oft Dinge und Stücke, für die er im All- gemeinen jahrelang und im Speciellen wochenlang Vorübungen und Studien gemacht – der Dilettant läuft, kaum daß das Concert aus ist, in die Musikalien- handlung und dann ans häusliche Klavier und nun sei der Himmel dem Virtuo- senstück gnädig und noch mehr dem Zimmernachbarn des Dilettanten! Das Ganze erinnert – man halte mir den Vergleich zugute – an die bekannte Fangart, wo der schlaue Jäger allzu enge Stiefelchen stehen läßt, welche das bekannte, nach- ahmungslustige Geschöpf, entzückt davon, wie dem Jäger seine Stiefel so prächtig stehen, sofort anzieht und nun elend und jämmerlich humpelt. Und – da wir ge- rade diesen Ton angeschlagen und beiläufig bemerkt – ich habe den sogenannten Coaita (S.  paniscus) in Bertuchs Bilderbuch nie ansehen können, ohne meine Ge- danken zu haben. Vier Hände hat er, wie alle seine Vettern, und überdies einen langen Wickelschwanz, dessen er sich auf das geschickteste bedient. Sollte es nicht möglich sein ihn zum virtuosen Pianisten abzurichten? Ein vierhändiger Pianist, ein Pianist à quatre mains und obendrein mit dem langen Wickelschweif zum schicklichen Greifen einzelner Fundamentaltöne wie etwa in Schumanns „Studien für den Pedalflügel“. Da wir in der Klaviertechnik heutzutage schon das Men- schenmögliche leisten, so begänne von da an vielleicht das Menschenunmögliche, was eben nur ein Coaita zu prästiren vermöchte! Die Musikzeitungen recensiren allerdings, was ihnen in den Weg läuft; aber oft recensiren sie die Novitäten, wenn diese keine Novitäten mehr sind, – die Componisten, gleich den gestürzten Titanen im Panzerliede der Goethe’schen „Iphigenia“ „harren vergeblich, im Finstern gebunden, gerechten Gerichtes“. Dann aber sind sehr, sehr viele Musikzeitungen dermalen nicht viel mehr als Fechtböden des erbitterten Parteihasses und wenn ein anständiger Mensch irgendwo den Lärm einer Prügelei heraustönen hört, so geht er gerne vorbei, ohne einzutreten. Ich weiß in der That nicht, was vorzuziehen ist: ob die starre musikalisch-orthodoxe Un- wandelbarkeit der alten Leipziger Musikzeitung von Anno 1799 u. s. w., welche über Mozarts Kühnheiten jammerte und sie als Ausschreitungen des Genie’s eini- germaßen entschuldigte, in Jos. Haydns Es-dur-Symphonie „Fehler gegen die Reinheit des Satzes“ nicht ohne bedauernden Schmerz entdeckte und über den jungen Beethoven („der bei seinem Talent und Fleiß sicher recht viel Gutes leisten könnte“, wie der wohlwollende Recensent der Salieri gewidmeten drei Sonaten für Pianoforte und Violine sagt) fast den Tod hatte – oder aber ob der rand- und band- lose Umwälzungston unserer musikalischen Wochenblätter u. s. w. Mögen sie ihre Lebenden apotheosiren und ihre Todten begraben nach Belieben – was ich hier bringen will, soll ihre Cirkel nicht stören – es soll ganz einfach den Leser orientiren helfen und nicht mehr. Insbesondere wünsche ich Werke fördern zu helfen, welche