Seite - 219 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

219 Juli 1872 60 65 70 75 80 85 90 95 100 componisten nach dem Vorbilde der größeren und größten Sonaten Beethovens gerne ihre Anlage in sehr großen Dimensionen machen. Speidels beide Sonaten, die ein erfreulicher Beweis sind, daß wir vor der sogenannten classischen Zeit noch nicht so ohne weiters die Augen mit Beschämung niederschlagen müssen, werden sicherlich keine ephemere Erscheinung bleiben, sondern dauernd ihren Werth und ihre Wirkung behaupten. Von Julius Zellner bringt uns Gotthards Verlag eine ganze Reihe höchst bedeutender Werke: eine Symphonie (Partitur und Auszug zu vier Händen), ein Notturno für kleines Orchester, ein Trio, eine Sonate für Pianoforte und Violon- cell, Phantasievariationen über ein altdeutsches Lied, eine Suite, bestehend aus Präludium, Scherzo, Marsch, Romanze, und Finale, ein Adagio mit darauffolgen- dem Allegro appassionato (Rubinstein gewidmet), drei Hefte kleinerer Charakter- stücke fürs Klavier, das eine Heft zu vier Händen, und endlich eine musikalische Interpretation oder Illustration der herrlichen Melusinen-Bilder Schwinds in einer Reihe vierhändiger Klavierstücke. Wenn Herder eine seiner poetischen Legenden mit dem Ausspruche beginnt: „eine schöne Menschenseele finden, sei Gewinn“, so ist der Gewinn sicher ein doppelter, wenn man eine schöne Seele und ein großes Talent vereinigt findet. Beides aber spricht aus Julius Zellners Compositionen. Zur Zeit als bescheidener, fleißiger, still und emsig schaffender Künstler in Wien lebend, wird dieser Wiener, wie ich zu prophezeien wage, einmal noch zu den Namen zählen, auf welche die Vaterstadt mit freudiger Befriedigung hinweist. Eine so bedeutende Begabung, eine so gründliche Bildung und ein so reines Streben muß endlich seinen Lohn finden. Ich bedaure, daß es mir der Raum nicht gestattet, auf das Einzelne einzugehen – wozu indessen hoffentlich an anderer Stelle für mich Rath werden wird. Julius Zellner beweist in seinen Werken in schönster Weise, wie man völlig moderner Künstler in der Form und Ausdrucks- weise und doch durchaus von dem classischen Geiste der großen Meister erzogen und geleitet sein kann. Der moderne Zug der Arbeiten Zellners läßt ihn manchem als einen „Schumannianer“ erscheinen, was er in keiner Weise ist. Damit glaubt man ihn charakterisirt und erledigt zu haben. Und schriebe er etwa mit der Tech- nik des mittleren Beethoven oder gar Mozarts oder hüllte er sich in die contra- punktische Mystik Bachs, so würde er hinwiederum sicherlich als „Reactionär“ taxirt. Und dann componire ein Mensch und mache es den Leuten recht! Einen den Stücken Zellners gewissermaßen verwandten Charakter haben die sechs Charakterstücke (op.  17) und die „Humoreske und Gavotte“ (op.  18) von Ladislaw Zelensky – nur daß man sich aus Zellners Musik gleichsam den Künstler an sich, ohne weiteren Rückstand, herausholen mag, während bei Zelensky, wenn man mit seinen Klavierstücken die gleiche Operation vornimmt, ein starkes Resi- duum von virtuosem Concertspieler zurückbleiben wird, was bei diesen, gro- ßentheils für den Concertvortrag berechneten kleinen Tondichtungen nichts weniger als ein Fehler heißen kann. Sehr anziehend ist der begleitete Canon im zweiten Hefte, also eine Art Duo – eine Form, zu der Schumann in seinen un- schätzbaren „Studien für den Pedalflügel“, hinter deren bescheidenem Titel sich eine Fülle von Kunst, Wohllaut und echter musikalischer Poesie verbirgt, die Anregung gegeben hat, wenn nicht etwa er hinwiederum aus den sogenannten