Seite - 224 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

224 Juli 1872 35 40 45 50 55 60 lität genial die Episode der Marche funèbre grecque. Unter den als dramatische Darstellerinnen debütirenden Schülerinnen darf Fräulein Anna v. Anger mayer eine Sängerin von großen, ja von bereits erfüllten künstlerischen Hoffnungen heißen. Eine macht- und klangvolle, edel ausgebildete Stimme, verbunden mit einer glücklichen, über die mittlere Frauengröße etwas hinausgehenden persönlichen Erscheinung, Feuer, Leben und Ausdruck im Vortrage qualificiren das Fräulein zur Darstellerin heroischer und tragischer Opernpartien. Ihr Romeo war in diesem Sinne eine ausgezeichnete Leistung. Wie ich höre, hat sie bereits in Venedig ein ehrenvolles Engagement gefunden; natürlich wird sie dort auf Verdi gesetzt sein oder gar auf die jämmerlichen Maestrini, welche Verdi’s Nachtrab bilden. Möge sie ihr deutsches Vaterland nicht vergessen! Sie ist ein geborner Fidelio, eine ge- borne Iphigenia, eine geborne Donna Anna. Ehrlich gesagt, wir sehen im Interesse der Kunst eine jugendliche Kraft dieses Ranges mit wahrem Schmerz in die Ferne ziehen. Wir könnten dergleichen in Wien sehr gut brauchen. Wie dem Frl. v. Angermayer läßt sich auch dem Frl. Clementine Prohaska eine brillante Zukunft prophezeihen. Sie ist keine Heroine wie die Angermayer, sondern ein sozusagen lyrisches Talent; in Rollen wie Martha, Gretchen u. s. w. wird sie glänzen. Die zierliche Beweglichkeit des wohllautenden Organs, verbunden mit einer sehr an- muthigen Erscheinung, eignen sie ganz für solche Partien. Im Gesange mit einem ersten Preise bedacht, erhielt das Fräulein nach dem dramatischen Concurs einen zweiten. Meine preisrichterlichen Herren Collegen mögen es mir nicht übel neh- men, wenn ich ihr hier pro voto separato auch den ersten zudenke. Die dritte im Bunde ist Frl. Elise Wiedermann, für Rollen wie Aennchen, Zerline u. s. w. wie geschaffen, entschiedenes dramatisches Talent, zierliche Erscheinung, nicht große, aber sehr angenehme Stimme. (Die Frl. Angermayer und Wiedermann wurden mit ersten Preisen ausgezeichnet.) Frl. Louise Proch hatte die Selbstverläugnung, in den Scenen aus „Figaro“ die Marcelline zu singen, – denn es ist wirklich eine Selbstverläugnung, wenn ein jugendlich blühendes Mädchen sich ein Altweiber- gesicht anschminken lassen muß. Sie sang übrigens ihren Part auch sehr gut. Der Saal war gedrängt voll, der Beifall der lebhafteste. A. W. Ambros. Rezensierte Veranstaltung Konkurs für dramatische Darstellung am Konservatorium der GdM, 26. Juli 1872, MVgr. Rezensierte Werke Rossini: Ouvertüren zu Guillaume Tell und Le Siège de Corinthe ◼ Mozart: Szenen des Cheru- bin aus Die Hochzeit des Figaro ◼ Vaccai: Schlussszene zu Bellinis Romeo und Julia Erläuterungen 17 Julius Zarembsky] Juliusz Zarębski (1854–1885), poln. Pianist; 1870–1872 Studium am Konservatorium der GdM, später Schüler von Liszt, Lehrer am Konservatorium in Brüssel. ◼ 17 Emil Paur] (1855–1932), Violinist, Dirigent und Komponist; 1866–1872 Studium am Konser- vatorium der GdM, 1872–1875 Mitglied des Wr. Hofopernorchesters, ab 1875 Karriere als Diri-