Seite - 234 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

234 August 1872 5 10 15 20 25 30 35 40 45 Portici“; ja, das kenne ich! „Keineswegs; ich meine das sogenannte Fischerlied, das zur Zeit von allen Drehorgeln ertönt, das alle Schusterjungen pfeifen, das den „Höher Peter“ gestürzt hat, das allerneueste Volkslied, von dem man, wie vom Mädchen aus der Fremde, nicht weiß, woher es kam, neben Wagners „Nibelun- gen“ die epochemachende musikalische Erscheinung der Gegenwart.“ Einige Tage nach dem eben mitgetheilten Gespräche führte mich mein Weg an einer Musikalienhandlung vorüber – siehe, da erblickte ich im Auslagekasten in sauberem Notenstich das „Fischerlied“. Ich sah die Melodie an – Himmel! welch’ ein Gassenhauer der allerschlimmsten Art. Nicht einmal etwas Neues erblickte ich in diesem Fischerlied – die Verwässerung und Plebejisirung der jämmerlichen „schönsten Augen“ von Stighelli, eigentlich Stiegele aus Schwaben. Nur daß an Stelle der widerlich parfümirten Sentimentalität der „schönsten Augen“ aus dem Fischerliede der Tabaksdampf der Bierkneipe duftet. Es soll auch einen Text haben, von dem man, wie Manzoni von dem Liede der beiden Bravi, die dem würdigen Don Abbondio solchen Schreck einjagen, sagen könnte: „una canzonaccia che non voglio trascrivere“. Das echte Volkslied gehört zu den besten Besitzthümern eines Volkes; wenn man von den Sprüchen und Sprüchwörtern mit Recht sagt, aus ihnen rede die Weltanschauung und Lebensweisheit der Nationen, so tönt aus dem Volksliede ihre eigenste Poesie und Musik. Gegen echte Volkslieder verhalten sich jene ande- ren sogenannten Volkslieder wie Schmeißfliegen gegen Bienen. Ich begegnete nach einigen Tagen wieder dem Freunde, der mich zuerst auf die epochemachende Er- scheinung des „Fischerliedes“ aufmerksam gemacht. „Wie ist es möglich“, rief ich ihm entgegen, „daß so etwas wie im Sturme die Menge erobert, während das Edelste sich oft mühsam Bahn schaffen muß!“ Eben deßwegen – erwiederte er – Goethe, der den allerdings sehr harten Ausspruch that, das Publicum ermangle im Ganzen der Fähigkeit, ein wirkliches Talent zu beurtheilen, würde vielleicht sagen, eine Melodie müsse gemein sein, um gemein zu werden. „Das klingt gewisserma- ßen orakelhaft, ein wenig wie die Weissagungen des Bakis. Aber sehen Sie nur z. B. den berühmten „Höher Peter“. Dieses Motto war in jedermanns Munde, und kein Mensch wußte, was er dabei denken soll, gerade wie 1865 die Pariser mit ihrem hè  Lambert. „Höher Peter“ wurde gesungen, gespielt, als „Höher-Peter-Marsch“ marschirt, als „Höher Peter, Polka schnell“ getanzt und auf dem Titel des Noten- heftes stand zu lesen, wie dieses unvergleichliche Opus in tausenden und aber tausenden von Exemplaren verkauft worden sei.“ Mein Freund lächelte zweideutig. Ich will, sagte er endlich, Ihnen nicht ver- hehlen, daß so etwas seine praktische Seite, seine Profitseite hat, wo man, um diese letztere an’s Licht zu kehren, die Sache praktisch anpacken muß. Nach un- verbürgten Schiffernachrichten soll es für eine Melodie, die in jenen tausenden und aber tausenden von Exemplaren „gehen“ soll (wie der Kunstausdruck der Musikhändler lautet), äußerst ersprießlich sein, sie den Drehorgelmännern gratis in die Walzen ihrer Instrumente einschlagen zu lassen und diese Musikcolporteurs durch kleine Geschenke, welche nach dem bekannten Sprüchworte die Freund- schaft erhalten, zu bewegen, daß sie die neue Melodie zur Ouverture und zum Finale ihrer Kunstproduction in den Höfen der Häuser u. s. w. machen. Die Melo-