Seite - 235 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

235 August 1872 50 55 60 65 70 75 80 85 90 die bleibt den Leuten im Ohre hängen, sie wird gepfiffen, gesungen, sie begleitet die Arbeit und den Wanderweg, der gedankenvolle Schauspieler hinter seinem Brette solfeggirt sie halblaut vor sich hin, sie wird zwar nicht mehr von Abbé Gelinek, von Henri Herz und Charles Czerny variirt (denn diese Herren leben nicht mehr und Variationen haben dermal auf dem Musikmarkte „keine Nach- frage“), aber sie erscheint sofort für Pianoforte allein, für Pianoforte zu vier Hän- den, mit Text, ohne Text, als „Lied ohne Worte“, – für die Zugharmonika, für die Bergzither, für die Streichzither, für das Harmonium mit Violoncellbegleitung, für zwei Czakane, für einen Czakan – dieser, jener Componist macht eine „Trans- scription“ (dieses Genre hat eben die ci-devant-Variation todt gemacht), in Quod- libets wird sie eingefügt, Gartenmusiken lassen sie hören, in Tanzrhythmen com- primirt oder ausgedehnt erklingt sie in Tanzsälen – ihr Glück ist gemacht! „Ich erstaune (unterbrach ich meinen Freund), in der That, das ist recht lehrreich und man könnte daraus vielleicht für Anderweitiges nützliche Winke schöpfen.“ Es wäre wohl der Mühe werth, bei einzelnen Liedern, welche zu wahren Volks- liedern werden, ihrem Ursprunge nachzuforschen und auf welche Art sie zu der Ehre gekommen, Volkslieder zu sein. Es wäre ferner ein gar nicht unwichtiges Stück Culturgeschichte eines Volkes, seine Lieder, wie sie kamen und gingen, zu verzeichnen, denn auch das Volkslied wechselt nach Zeit und Geschmack. Es war ganz richtig empfunden, wenn Johannes der Schreiber von Limburg in seiner Limburger Chronik, welche bekanntlich den Zeitraum von 1336 bis 1402 umfaßt, nicht allein zu jedem Jahre die wechselnden Moden schildert und wie die Frauen „gemützerte und geflützerte“ Kleider trugen (beiläufig gesagt fallen mir bei den zehntausend Flicken und Lappen, womit sich unsere Damen von hinten be- hängen, immer die gemützerten und geflützerten Kleider der schönen Limburge- rinnen von 1350 ein), sondern auch welche Lieder man in jedem Jahre gesungen. Zu eben demselben Jahre 1350 heißt es: „in derselbigen Zeit sung man ein neuw lied in teutschen Landen, das war gemein zu pfeifen und zu trommeten und zu allen Freuden etc.“ Und so verzeichnet der wackere Johannes zu den Jahren 1355, 1356, 1357, 1359, 1360, 1363, 1366, 1367, 1370, 1374, 1379 und 1380 getreulich, welche Lieder man eben „sang und pfiff“. Wer die Lieder gedichtet, die Weisen gesetzt, sagt er nur an zwei Stellen. Zum Jahre 1356 sang man „ein Taglied von der heiligen Passion, und war neu und machte es ein Ritter: o starker Gott, all’ unserer Noth u. s. w.“ Und zum Jahre 1374 berichtet der Chronist von einem Mönch Bar füßer- Ordens: „Der machte die besten Lieder und Reihen in der Welt von Gedichten und Melodeyen, daß ihm niemand uff Rheinesstrom oder in diesen Landen wohl gleichen mochte. Und was er sung, das sungen die Leut alle gern, und alle Meister pfiffen und andere Spielleut fuhrten den Gesang und das Gedicht.“ Die Melodien hat uns der Chronist leider nicht überliefern können. Ersatz leisten die Arbeiten der deutschen Contrapunktisten des 15. und 16.  Jahrhunderts, wie Heinrich Isaak, Heinrich Finck, Paul Hoffhaymer, Arnold von Bruck, Ludwig Senfl u. a. m. Aus dem kunstvollen und tiefsinnigen Gewebe von Gegenstimmen, womit ihre Meisterhand die zum Tenor dienende Volksweise umflocht, kann man letztere oft ganz wohlerhalten herauslösen. Da tönt uns aus der Composition Heinrich Fincks das herrliche alte Wallfahrtslied: „In Gottes nam’ so fahren wir“,