Seite - 238 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

238 August 1872 185 190 195 200 205 210 215 220 beschränken will: Erbauung und Lustigkeit, Andacht und Tanz, das sind wirklich die beiden Angelpunkte, um welche sich Alles dreht. Ursprüngliche, weltliche Volkslieder sind zugleich Volkstänze gewesen und umgekehrt. Ersinnt ein Dorf- tanzgeiger, ein Dudelsackpfeifer einen neuen Hopser, einen neuen Schleifer, so findet sich sehr bald ein gesungener Worttext dazu, in welchem das Volk nicht selten seiner satyrischen Laune Ausdruck leiht. Es genüge an die „Schnader- hüpfeln“ zu erinnern oder aus älterer Zeit an den „lieben Augustin“, der, an sich ein harmloser, philiströser Walzer, zum unvergänglichen Scherz- und Spottliede ge- worden ist. Richard Wagner ruft zum Schlusse seines Essay über Wieland den Schmied: „Das hast du gedichtet, herrliches Volk!“ u. s. w. Stellt er sich im Ernst vor, daß sich das Volk in corpore hinsetzt und dichtet und ebenso in corpore componirt? In erster Fassung gehören die Volkspoesien, die Volksmelodien irgendeinem Einzel- nen an, der aber meist unbekannt bleibt oder vergessen wird, daher manch’ solcher Autor mit den zuweilen vorkommenden Schlußversen „Wer hat wohl dieses Lied erdacht u. s. w.“ klüglich für seine Unsterblichkeit sorgt – dann aber meist doch den Namen bescheidentlich verschweigt und nur seinen Stand, ja sein Opus wohl gar als Compagniearbeit angiebt, da es dann „drei Ziethen’sche Husaren“ oder „drei Bergknappen“ oder „drei Jungfräulein“ sind – die Zahl drei ist in solchen Fällen sehr beliebt. Aber wie nun Text und Melodie von Mund zu Mund geht, wird daran geändert, zugesetzt, weggelassen und in diesem Sinne prägt wirklich das Volk der Sache seinen Stempel auf und wird zum Mit- und großen Gesammt- arbeiter. Daher die Varianten, welche der Sammler von Volksliedern nach einzel- nen Gegenden und Landstrichen zu verzeichnen findet. Selbst wo das Volk etwas aus der höheren Volkspoesie für sich requirirt, muß sich das Poem Appretirungen nach dem Volksgeschmacke gefallen lassen. Unter den Liedern „gedruckt in die- sem Jahre“ eines fahrenden Buchkrämers fand ich einmal Goethe’s „Kleine Blume, kleine Blätter“ – aber mit den naivsten Varianten im Texte und mit Einschiebun- gen und Zu sätzen, wie: „Jetzt thu’ mein Gewehr ich laden, thu’ für Freuden einen Schuß, meinem Herzschatz zu gefallen, meinen Feinden zum Verdruß“ u. s. w. Eine Geschichte des Volks-, ja des Bänkelgesanges würde, wie gesagt, ohne Zweifel ihre culturhistorische Bearbeitung verdienen. Aber der Culturhistoriker müßte neben seiner allgemeinen auch eine tüchtige musikalische Bildung besitzen, dazu aufopfernden Sammlerfleiß und strenge Gewissenhaftigkeit. Riehl wäre der Mann dazu, nur dürfte er nicht, wie in seinen „musikalischen Charakterköpfen“, mit der eigenen Geistreichigkeit flunkern und keine Schönfärberei treiben, son- dern müßte sich einfach und ehrlich an die Sache halten. Erläuterungen 4f. aus der „Stummen von Portici“] Oper von Auber. ◼ 5 Fischerlied] „Drenten übern Bachel, da steht das Fischerhaus“, heute bekannt als „Ich bin ein Fischers Junge, Steh’ auf in aller Früh’“. ◼ 14f. der … „schönsten Augen“ von Stighelli] Das auf einen Text von Heine kompo- nierte Lied „Die schönsten Augen“ op.  2 aus der Feder des dt. Tenors und Komponisten Giorgio Stigelli (1820–1868) ist volkstümlich geworden. ◼ 19f. „una canzonaccia che non voglio trascrive- re“] „Ein Gassenhauer, den ich [hier] nicht wiedergeben will.“ Alessandro Manzoni, I promessi