Seite - 256 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

256 September 1872 80 85 90 95 100 105 110 115 120 lichte funkeln, wie die bunten Federn wehen! Wir sind aber auch dankbar! Als Fräulein Geistinger, die im ersten Act ihre Rolle als Köchin Susanna in Weiber- tracht mit viel Anmuth und gutem Humor durchgeführt hatte, im folgenden Act in knapper, kleidsamer Knabentracht auftrat, ertönte, ehe sie noch ein Wort ge- sprochen, eine Applaussalve. Wenn etwa ein Philolog, ein Schulmeister im Publico saß, wird er sich wohl einer Stelle aus einer Epistel seines Horaz erinnert haben: quum stetit in scena concurrit dextera laevae. Dixit adhuc aliquid? „Nil sane.“ Quid placet ergo? „Lana Tarentino violas imitata veneno.“ Kaum tritt der Schauspieler auf, so klatscht das Publicum Beifall, – „hat er denn schon was gesagt?“ „Noch nichts!“ „Was klatschen sie also?“ „Siehst Du denn nicht sein Kleid? wie schön! tarentinischer Purpur!“ So schrieb Horaz vor neunzehn Jahrhunderten. Rabbi Akiba hat Recht – es ist Alles schon dagewesen. Wir waren an dem Abend überhaupt ungemein ergötzbar. Herr Friese als Rentier Lambre- quin hat im zweiten Act in seinem Hausgarten mit der Gießkanne Blumen zu begießen. Da that er einen Augenblick, als begieße er den Souffleur – homerisches Gelächter! Das ist wenigstens ein harmloser Spaß. Aber über alles Erlaubte und Zulässige geht es, wenn im dritten Act dem Rentier Lambrequin, dem Apotheker Toulard und dessen Sohne Antonin, nachdem man ihnen im Final des zweiten Actes bei einem Schmause ein Narcoticum beigebracht, beim Erwachen in einem als Schiffskajüte ausstaffirten Zimmer weißgemacht wird, sie seien Gefangene auf dem Schiffe des „schwarzen Corsaren“, wenn man sie nun in Schaukelstühlen so lange wiegt, bis sie – wahrhaftig, es ist wahr! – bis sie seekrank werden –!! – wenn während eines angeblichen Seegefechtes der vermeinte Corsar sie ermahnt, herum- fliegende, explodirgefährliche Hohlgeschosse mit einer Art blechener Topfdeckel zu fangen und zu ersticken und nun große Kautschukbälle, wie die Kinder mit dergleichen spielen, hereingeworfen werden und zum Ergötzen des Publicums auf der Bühne elastisch herumhüpfen, während jene mit ihren Topfdeckeln vergebens hinterdrein sind, um sie zu fangen. Wir können nur wiederholen, was wir unmittelbar nach der Aufführung, un- ter dem ersten Eindrucke des Geschauten und Gehörten niederschrieben: „Dichter und Componist scheinen sich das Wort gegeben zu haben, einmal zu probiren, was und wie viel man dem Publicum bieten könne.“ Und in der That, wir sind in der Offenbach’schen Schule schon so trefflich gezügelt, daß wir es kaum noch merken, wenn die Wahrscheinlichkeit, der gesunde Sinn, ja wenn Sitte und Anstand ins Gesicht geschlagen werden. Wir haben selbst da noch gelacht, als Herr Schreiber, der den Antonin Toulard spielte, die bekannten Symptome der Seekrankheit uns mit einer Deutlichkeit zeigte, die nichts mehr zu wünschen übrig ließ. Gewisse Possen kehrten alle Augenblicke wieder: sämmtliche auf der Bühne befindlichen Personen machen Front und marschiren trippelnd nach irgendeiner Marschmelo- die von den Fußlampen krebsgängig bis in den Fonds der Bühne und aus dem Fonds der Bühne geradeaus bis zu den Fußlampen, oder sie tänzeln nach irgend- einer im Orchester aufgespielten Polkamelodie – nicht als ob diese in dem bezüg-