Seite - 270 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

270 Oktober 1872 20 25 30 35 40 45 50 55 60 frau Lorenz,“ „Der Graf von Habsburg,“ „Offerus“ u. a. m., sich als wirksam be- währen würden. Wie die Sachen zur Zeit stehen, sind Löwe’s Compositionen so ziemlich ein ungehobener Schatz. Daß sich darunter endlich auch flüchtigeres schwächeres Mittelgut und allerlei findet wo der unverkennbare Zug Löwe’s zum Seltsamen und gelegentlich auch wohl bis zum Bizarren unangenehm hervortritt, soll nicht geläugnet werden. Die Gattung der durchcomponirten Ballade, bei welcher die Musik den ein- zelnen im Texte geschilderten Situationen illustrirend folgt, und es eine Aufgabe für den Componisten bleibt in das wechselnde Detail die architektonisch ihre Massen disponirende Anlage zu bringen, deren die Musik als solche einmal nicht entbehren kann – eine Aufgabe einen in sich geschlossenen und gerundeten Orga- nismus hinzustellen und nicht ein buntes Quodlibet hinzuwerfen – diese Gattung großer musikalischer Balladen datirt von den Dichtungen G. A. Bürgers, welche zuerst den Tonsetzern dazu die Anregung gaben. Der Dichter selbst hatte bei sei- ner Lenore (1773) noch keinen andern Wunsch als daß er sich seine Verse, wie bis dahin gebräuchlich gewesen, nach irgendeiner volksliedmäßigen Weise strophisch gesungen dachte, und er freute sich schon seine Ballade als Spinnstubenlied ins Volk dringen zu sehen. Johann André, der noch 1780 den „Bruder Graurock“ und „Die Weiber von Weinsberg“ nach alter einfacher Art als Strophenlieder componirt hatte, brachte drei Jahre später dieselben Weiber von Weinsberg als durchcomponirte Ballade – er kann als der Vater dieser Kunstgattung angesehen werden. Wem der Geschmack an der modernen gewürzten und nur zu oft verwürzten Musik und insbesondere an den modernen Clavierbegleitungen, welche oft schon ein völliges brillantes Concertstück mit zufällig und nebenher eingreifender Singstimme vorstellen kön- nen, nicht den Sinn für das einfach Gute und Angemessene, anspruchslos Tüchti- ge abgestumpft und verdorben hat, der wird nicht umhin können André’s Com- position bei aller Einfachheit und Einfalt trefflich zu nennen. Denn einfach ist sie in hohem Grade – die Zeile für die rechte Hand des begleitenden Spielers enthält auch die Singstimme, die Baßzeile beschränkt sich mehrentheils, nach Art eines Generalbasses, auf die einfachen Fundamen taltöne der jeweiligen Harmonie. Und sogar noch vor den „Weibern von Weinsberg“ brachte André die „Lenore“ (1782 hier schon als „zweite verbesserte Auflage“ – die erste ist nicht mehr nachweisbar) durchcomponirt und in ihrer Einfachheit die Sache an der Wurzel packend. Die Welt hat das treffliche Werk, trotz der fünf Auflagen die es erlebte, vergessen, wie sie mit gleichem Unrecht Zumsteegs einst so gepriesene „Lenore“ vergessen hat, und heute höchstens nur noch weiß daß sie einmal da war – wie sie die „Lenore“ von W.  J. Tomaschek vergaß, musikalisch die reichste und glänzendste aller dieser „Lenoren“ und ein Meisterstück dazu. Tomaschek hat, beiläufig gesagt, das Un- glück gehabt in Prag, dieser Oubliette der Componisten, zu leben und zu sterben, stolz abgewendet von dem Treiben des dortigen gemeinen Musikantenthums von „Anno dazumal“ – und dem Publicum die Nichtachtung und Nichtbeachtung mit der es ihn behandelte reichlichst durch schroffe Verachtung vergeltend. Hätte die- ser ausgezeichnete Tonsetzer, dem nur seine Vereinsamung in dem damaligen Prag einen gewissen Philisterzug gab, welcher ganz wunderlich wie ein Schleier über