Seite - 282 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

282 Oktober 1872 130 135 140 145 150 155 160 165 170 See diese Gefälligkeit erwiesen (so glaubt sie wenig stens), so verzweifelt sie, will ihrem Mann folgen „wo niemand mehr trennen sie kann,“ und springt ins Meer. Sehr voreiliger Weise – denn Friedrich ist nicht ertrunken, kehrt vielmehr mit Seidenstoffen, Edelsteinen u. s. w. heim, erschrickt als er die „Mär hört,“ versenkt seine Schätze, baut ein Thürmchen am Seestrand, das er als büßender Einsiedler bewohnt bis er stirbt. Und dann warnt er, wenn er aus dem Thürmchen als umge- hendes Gespenst heraustritt, die Schiffer vor schlechtem Wetter, „schon manchen hat er vor Schiffbruch bewahrt.“ Vielleicht gab er Anlaß zur Erfindung der Spiele- rei jenes Wettermännchens an alten Barometern, eines Capuciners, der je nachdem gutes oder schlechtes Wetter werden soll, aus seiner Hütte herauskommt oder sich in sie zurückzieht. Zumsteeg hat an die einfältige Geschichte viel gute Musik ver- schwendet. Geringer ist „die Büßende“ (die „lange, steile, finstre Treppe“ malt Zumsteeg mit großem Behagen aus), das „Lied von der Treue“ u. s. w. Alle diese Balladen sind so lang, daß man sie mit unterlegten Sängern vortragen sollte, wie man bei weiten Reisen mit unterlegten Pferden fährt. Unsere Eltern nahmen an diesen schier end- losen Gesängen keinen Anstoß. Wie weiland die Ur-ur-Großeltern an den ähnlich endlosen Romanen ihrer Zeit, der „Syrerin Aramena,“ der „asiatischen Banise“ u. s. w., nicht nur keinen Anstoß nahmen, sondern diese brei ten mit polyhistori- schem Inhalt vollgestopften Dichtungen ihnen eine ganze Bibliothek ersetzen halfen (noch „Sophiens Reise von Memel nach Sachsen“ deutet nach dem alten Roman hinüber, der neben zahllosen Abenteuern ganze Abhandlungen und Essays im Leibe hatte), so halfen diese weitläufigen Balladen dem schlichten Bürgerhause die Oper ersetzen, deren Luxus sich zu vergönnen nicht eben jeder Gelegenheit oder Geldmittel hatte. Heutzu tage singt und hört sie (in der That) niemand mehr – weniger weil sie veraltet oder werthlos sind, als weil unsere Zeit in allen Dingen ungeduldig geworden; noch unsere Großeltern fuhren, ohne ein Wort darüber zu verlieren, mit der gelben Kutsche von Dresden nach Leipzig ihre zwei bis drei Tage, wo wir schon die Ge duld verlieren wenn sich der Bahnzug nach drei Stun- den um eine Viertelstunde verspätet. Mit dieser Unge duld der modernen Welt steht allerdings auf musikali schem Gebiete die Ergebung und Ausdauer in seltsa- mem Widerspruch womit die Leute eine fünfthalbstündige Oper von Meyerbeer oder Richard Wagner anhören. Das Schicksal nicht gesungen zu werden, theilen übri gens Zumsteegs Balladen auch mit moderneren, mit Schuberts „Taucher,“ „Er- wartung,“ mit Löwe’s „Jung frau Lorenz,“ „Offerus“ u. s. w., und aus denselben Gründen. Unter den kleinen Balladen Zumsteegs ist „Ritter Toggenburg“ eine der bes- ten, der Schubert’schen Compositionen desselben Gedichtes so ziemlich ebenbür- tig; der einfach rührende Ton spricht zum Herzen. In diesen Gesängen hilft sich Zumsteeg öfter als in den großen Balladen durch Strophengesang, dem sich an bedeuten deren Stellen selbständige Episoden einschieben (z. B. in „Robert und Käthe“ ein Gewitter, im Toggenburg der Marsch der Kreuzfahrer u.  dgl. In „Lenore“ fehlt dieses Auskunfts- und Erleichterungsmittel, durch gleichartige Be- handlung der im Bürger’schen Text wie derkehrenden gleichen Stellen bringt hier der Musiker eine gewisse schön wirkende architektonisch-symmetrische Disposi-