Seite - 288 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

288 Oktober 1872 90 95 100 105 110 115 120 125 unglücktes Machwerk, daß er voll der gröbsten Unwahrscheinlichkeiten sei u. s. w., sollten bei der Fülle von Geist, Charakteristik, hinreißendem Wohllaut, edler Me- lodie, und was uns sonst die Partitur entgegenbringt, endlich einmal verstummen und um so mehr verstummen, als Mozart die Drahtpuppen seines Poeten durch irgendein Wunder nicht allein zu lebenden Wesen, sondern sogar zu Charakterty- pen gemacht, für welche wir in der sonstigen Opernliteratur die Gegenbilder ver- gebens suchen. Oder man zeige uns irgendwo eine zweite Despina, einen zweiten Alfonso! Für letzteren wird man das Urbild eher lebend und wahrhaft in Italien als in irgend einer andern Operncomposition musikalisch gezeichnet finden. Es ist er- staunlich, wie sich Mozart seine Leute besah, um sie dann ganz unvermuthet irgendwo musikalisch auftauchen zu lassen. Er war als Knabe in Italien, seine Briefe an Schwesterl Nannerl verrathen kaum, daß er für Land und Leute und Lebenssitte und Kunstdenkmale Augen gehabt, er schrieb an Nannerl im ein- samen Salzburg, was der Bildungshöhe des schwesterlichen Backfisches angemes- sen war und wovon Wolferl meinte, es könne interessiren; aber „Don Juan“, „Figaro“, „Cosi fan tutte“ – diese Partituren erzählen auf jeder Blattseite von allem dem, wovon in den Briefen die Rede nicht ist. Sage man dann, Mozart sei sein Lebelang ein Kind geblieben! In dem Man- dolinenständchen Don Juans, in der Serenata, welche die Officiere von beleuchte- ter Barke aus mit Sinfonia, eigenem Gesang und einfallendem Chor ihren Schönen bringen (sie von einer Gartengesellschaft a terra absingen zu lassen, wie Herr Louis Schneider in seiner Verbalhornung thut, die sich jetzt leider bei uns ein- gebürgert hat, ist blanker Unsinn!), lebt der ganze Zauber südlicher Mondnächte; in Bartolo’s Arie glaubt man bei dem emphatisch-wichtigthuenden „l’affare è serio“ und bei dem zungenfertigen „s’ogni codice dovessi leggere“ mit einem echt römi- schen Advocaten zu conferiren, und wenn in den „Figaro“ bei dem reizenden Hochzeitsmarsch und in der anscheinend so leichthin und in Wirklichkeit so unvergleichlich meisterhaft behandelten Originalmelodie des Fandango etwas Spanisches hereinklingt, so ist „Cosi fan tutte“ ein Stück Italien, „wie es wirklich ist“ – aber letzteres nicht im Gustav Nicolai’schen Sinne – es ist der Himmel, die Erde und das Meer des glücklichen Campaniens, das leichtlebige, genußtrunkene Neapel, wo es (wie ich aus eigener leidiger Erfahrung weiß) gar nichts hilft, wenn man mit den besten und ernstlichsten Vorsätzen hinkommt, dort etwa in den Bibliotheken u. s. w. ungemein zu arbeiten, weil jede Minute dort lebenswerth ist und man sich nicht, wie anderwärts, mit Erinnerungen schleppt oder mit Erwar- tungen ängstigt, sondern den Augenblick rein und ganz genießt – Neapel, das uns Dorabella’s und Fiordiligi’s leichte Beweglichkeit, die abenteuerliche Verkleidung ihrer Liebhaber, kurz den ganzen Unsinn des Da Ponte’schen Textbuches plausibel macht, zu dessen Entschuldigung man übrigens billiger Weise nicht vergessen darf, daß die pikante, wohllautende Sprache, gewisse artige Idiotismen italieni- scher Conversation u. a. m. über Manches und Vieles hinüberhelfen. Der behagli- che alte Junggeselle, Kaffeehausinsasse und sogenannte Philosoph Alfonso wird unmöglich, sobald er eine andere Sprache zu sprechen anfängt als sein natives Italienisch.