Seite - 295 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

295 Oktober 1872 65 70 75 80 85 90 95 100 105 sie gab am Ende doch, wenn nicht schwache, so doch schwächere Musik und der einfache Wohlklang einer fließenden Melodie muß dann für den mangelnden tie- feren Gehalt entschädigen. Mit dieser Bemerkung hätten wir auch die wenigen Lieder erledigt, welche in der neuen Sammlung die relativ geringeren sind. Aus Theodor Körners „gestörtem Glück“ ließ sich nicht eben viel machen oder aus der „Pastorella al prato contenta“. Selbst auch Schillers „Hoffnung“ und sein „Geheimniß“ sind für den Musiker doch zu gedrängt voll Reflexion, als daß der Componist freie Arme zur Bewegung behielte, für dergleichen hat aber die Musik auf ihrem ganzen weiten Gebiete kein rechtes Echo, sie kann in solchen Fällen das Gedicht mit ihren Melodien beklei- den, aber nicht es damit durchdringen. Dies zugegeben, ist das Körner’sche Lied- chen ein artiges Stück, auch die „Pastorella“, ja selbst Schillers „Hoffnung“, bei welcher die Dilettanten über die vorgezeichneten sechs b erschrecken werden. (Vielleicht ist die ungewöhnliche Tonart Ges-dur dem „philosophischen“ Gedichte zuliebe gewählt.) Im „Geheimniß“ stört gegen den Schluß hin ein harmonisch unmöglicher Zusammenklang zwischen Singstimme und Begleitung, ein Schreib- fehler ist’s offenbar nicht, sondern eben ein Versehen. Der beste Zeichner macht ja zuweilen einen Schnitzer gegen die Perspective oder sonstiges, und wer Hundert- tausende von Noten schreibt, wie Schubert gethan, dem läuft wohl ein Mal eine unrichtige aus der Feder. Klärchens „Freudvoll und leidvoll“ ist nur durch mehrere wirksame Varianten „Novität“ und verbessert Incorrectheiten der bisherigen Edi- tionen dieses Stückes. Demselben Jahre 1815, in welchem diese etwas blässere Nachblüthe des Beet hoven’schen Klärchen-Liedes entstand, entstammen noch einige der jetzt publicirten Lieder, Schubert componirte sie also in seinem achtzehnten Lebens- jahre. Sehr schön, ein ganz kurzes Lied, aber hymnenartig-feierlich und von prächtigem Klange ist der Gesang „an die Sonne“ von G.  v. Baumberg, das heißt: Gabriele von Baumberg. Wenige werden wissen, daß das einst von sentimentalen Seelen viel gesungene Vergißmeinnichtlied: „Ein Blümchen, das sich zwar nicht mehr für uns’re Lage schickt“ derselben Gabriele angehört, welche heutzutage so vergessen ist wie ihr Vergißmeinnichtlied. Doch sehen wir in den Liederheften weiter zu! Da ist nun Goethe’s: „Nur wer die Sehnsucht kennt“. Welch’ ein kleines Meisterstück oder vielmehr: welch’ ein großes Meisterstück in kleinem Rahmen. Schubert hat dasselbe Gedicht in einer zweiten, längst gedruckten Composi- tion (op.  64, Nr.  2) [sic] behandelt; die bisher ungedruckt gewesene, in der Stim- mung ähnliche, aber an überraschend schönen, harmonischen Zügen weit reichere nimmt ohne Frage unter den Liedern Schuberts einen hohen Rang ein – vielleicht die schönste musikalische Nachdichtung jener viel und oft componirten Verse; das früher gedruckte Lied Schuberts nimmt sich beinahe matt dagegen aus. Nicht minder schön sind die „Nachtviolen“; – fast ein halbes Jahrhundert also konnte diese musikalische Perle verborgen und vergessen sein, bis der Eifer eines kunstsin- nigen Sammlers sie ans Licht zog. Als ein herrliches Gesangsstück muß ferner das zwar als Strophenlied, aber breit und prächtig behandelte „Am Flusse“ bezeichnet werden, – man denkt sichs unwillkürlich orchestrirt, die Stelle, wo der Discant der