Seite - 296 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

296 Oktober 1872 110 115 120 125 130 135 140 145 150 Begleitung glanzvoll über die Singstimme steigt, müßte von einer Masse vereinig- ter Geigen vorgetragen noch ganz anders wirken als auf dem am Ende doch dürf- tigen Klavier. Im „Gondelfahrer“ versetzt Schubert durch die Kraft seines Genius sich und uns mitten in eine venezianische Mondnacht, wenn uns die gleitende Gondel leise über die grünlichen Fluten des Canal grande trägt, aus denen der Wiederschein der in Silberlicht getauchten Paläste blinkt – die sinnreiche Tonmalerei des dröh- nenden Glockenschlages der Mitternachtsstunde, welche Schubert auch in der Be- gleitung des bekannten, den gleichen Gegenstand behandelnden Singquartettes angebracht hat, finden wir schon hier, ja ihr eigenthümlicher Zusammenklang giebt das Grundmotiv für das ganze Lied. Der nach Mozart deutende Zug eines anderen Liedes, „Wiedersehen“, erscheint um so merkwürdiger, als die Composi- tion erst aus dem Jahre 1825 herrührt. Frisch, köstlich und sehr originell spricht das fein durchcomponirte Lied „Der Knabe“ (Gedicht von Schlegel) an. Das reizende Herbstlied von Salis kann ein idealisirtes Kinderlied vorstellen, eine artige Klei- nigkeit ähnlicher Art ist das „Ammenlied“. Ein Hauch inniger Wehmuth verklärt das Lied vom „Rückweg“, es ist eine jener Melodien, welche die Italiener di prima fattura nennen – sie wird hier zur Trägerin der edelsten Empfindung, ganz beson- ders schön aber ist der Schluß. Wer sehen will, wie Schubert das Einzelne schein- bar einfach und dennoch höchst treffend auszumalen versteht, der suche in dem Liede „Leiden der Trennung“ die Stelle auf: „des Irrens matt und müde“. Die allbekannte Schubert’sche Composition „Der Tod und das Mädchen“ fin- det unter den neuen Gesängen ein interessantes Gegenstück: „Der Jüngling und der Tod“. Das erstere Gedicht (in „Des Knaben Wunderhorn“) charakterisirt Goethe mit den Worten: „in Todtentanzart, holzschnittmäßig, lobenswürdig“. Der kleine, ähnlich angelegte Dialog des Jünglings mit dem Tode unterscheidet sich von jenem anderen, daß das Mädchen um Schonung bittet, der leidende Jüng- ling aber den Tod als Helfer herbeiruft. Aber in beiden Todtentanzstücken ist der Tod nicht der heimtückische, schadenfrohe Dämon, als den wir ihn in Holbeins Liedern kennen lernen, beide Male tritt er wohlwollend entgegen. Die Hand, wel- che der „wilde Knochenmann“, wie ihn das Mädchen nennt, ausstreckt, will sanft die Leidenden in ein besseres Sein hinüberleiten, ihnen die Dornenkrone von der blutigen Stirne nehmen und sie dafür mit nicht welkenden Rosen krönen. Merk- würdig ist es, wie Schubert den Tod beide Male mit ähnlichen Tönen und doch jedesmal anders einführt – ganz eigen macht sich in dem neuen Stücke die Ver- dopplung der Singstimme in der tiefen Octave bei den Worten des „Todes“. „Der gute Hirt“ von Uz und die Hymne von Novalis endlich sind als Denkmal religiö- ser Stimmungen anziehend, die dem anscheinend so leicht und heiter den Tag hinlebenden Schubert nicht so fremd waren, als man vielleicht denken könnte – Stimmungen, denen er zuweilen auch in Versen und schriftlichen Aufsätzen Aus- druck gab. Sie haben für sein Seelenleben und seine innere Geschichte ungefähr dieselbe Bedeutung wie die geistlichen Lieder nach Gellert für Beethoven, und im Grunde eine tiefere als solenne Messen und ähnliche große, zu öffentlicher Aus- führung bestimmte Arbeiten, denn in jenen anspruchsloseren Stücken, die nicht auf Bestellung und nicht um Beifalls willen, sondern aus innerem Drange geschaf-