Seite - 299 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

299 November 1872 40 45 50 55 60 65 70 75 80 feste Führung und Bindung der Stimmen im Fugensatze, die Steigerung der Massen war von imposanter Wirkung, noch mehr Anerkennung aber verdient viel- leicht der Vortrag der eigentlichen, der Fuge vorangehenden „Phantasia“, die unter anderen Händen sehr leicht zu einem bloßen Tongeflunker werden kann, wie ich mich denn erinnere, daß einmal ein zwar nicht musikalischer, aber gebildeter Mann, als eine Pianistin in einer Gesellschaft die chromatische Phantasie anfing, sich still in mein Ohr hinein verwunderte, daß die junge Dame uns „Fingerübun- gen“ zum Besten gebe, denn dafür nahm er’s. Der chromatischen Phantasie ließ Bülow noch ein großes Stück von J.  S. Bach folgen, die vierte der sogenannten englischen Suiten, welche er (wofür wir ihm ganz ausdrücklich danken) vollständig spielte, während andere Pianisten die Sui- ten Bachs nur als Vorraths- oder Schatzhäuser anzusehen pflegen, aus denen man ein oder das andere Stück zum Gebrauche herausholt. Die Allemande, Sarabande und Gigue spielte Bülow wahrhaft vollendet; der Menuet war, wenigstens nach meiner Empfindung, ums Doppelte zu schnell, worüber die graziöse Ehrenfestig- keit, die anmuthige Pedanterie dieses Satzes, welche so überaus ansprechend wirkt, völlig verloren ging. Zwischen der languissanten und sentimentalen Sarabande (ich wähle die fremden Beiworte mit Absicht) und dem gaukelnden Presto der Gigue soll jener Menuet ein Mittelglied bilden, darf also nicht selbst ins Presto hinein gerathen. Höchst merkwürdig nahm sich nach der Bach’schen Contra- punctik Mozart’sche aus. Die Sonate (F-dur, unter den Mozart’schen Sonaten dieser Tonart die größte) gehört zu Mozarts durchgebildetsten und bedeutendsten Klavierstücken. Die eisernen Ketten und Klammern eines sehr künstlichen contrapunktischen Ge- füges sind hier überall so mit Blumen überkleidet und hinter Blumen versteckt, daß man „vom Handwerk“ sein muß, um sie auch nur zu bemerken. Ganz beson- ders schön trug Herr v. Bülow das Andante und das anmuthvolle Rondo vor; daß er an zwei Stellen des Andante der Versuchung widerstand, mit Octaven zu ver- doppeln, und sich an den Urtext getreulich hielt, sei ihm als besonderes Verdienst angerechnet. Altclassisches und Modernes vereinigte sich sehr gut in den Variationen über ein Händel’sches Thema von Brahms, wie denn in dieser höchst bedeutenden Arbeit sich die Geister classischer und romantischer Musik ein Rendez-vous geben und sich mit einander bestens verständigen. Nicht jeder darf mit Händels Geist ringen und zu ihm sagen: „ich lasse dich nicht, du segnest mich denn“. Brahms durfte es. Von den Variationen sind besonders die ersten Nummern durch ihren genialen Zug wahrhaft überraschend, unter den späteren kann ich bei einigen den Eindruck nicht ganz los werden, der Componist habe sie eigentlich darum geschrieben, weil – die leeren Kisten von den „dreiunddreißig Veränderungen Beet hovens über einen Walzer“ um ihn herumstanden und gefüllt sein wollten. Trotzdem gratulire ich jedem, der auch nur dieses vermöchte. Die abzuschließende Fuge ist als glücklicher Versuch, die alte Fugenform mit neuem Geiste zu beleben sehr interessant, ganz zum Gegentheile der Schlußfuge von Raffs Suite, von welcher Composition Bülow einige Sätze vortrug, die wir, ehrlich gesagt, ihm gerne geschenkt haben würden. Raffs sogenannte Fuge verdient es, wenn man