Seite - 301 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

301 November 1872 130 135 140 145 150 155 160 165 170 den Recitativen mit ihrem „er aber sprach“, oder „sie aber sprachen“ – in der Ein- webung von über die Handlung reflectirenden Arien und Chören, in der Einschal- tung von bekannten, herrlich behandelten Choralen, welche wie Grenzsäulen die einzelnen Theile des großen Ganzen schieden – in dem Allem war das Vorbild der Bach’schen Matthäus-Passion, die ja Mendelssohn kurz vorher selbst aus dem Staube gezogen und der Welt geschenkt hatte, nicht zu verkennen und demnach konnte man nicht entfernt von Nachahmung sprechen, eben weil alles jugend- frisch, neu und eigen erschien. Die hohe, originelle Poesie der sogenannten Con- certouverturen („Sommernachtstraum“, „Fingals-Höhle“ u. s. w.), des G-moll-Con- certes, des Octettes, der ersten Liederhefte mit und ohne Worte zeigten, daß man es nicht, wie man allenfalls nach dem „Paulus“ hätte glauben können, mit einem musikalischen Zions-Wächter zu thun habe, der ewig nach Jerusalem läuft, son- dern mit einem Dichter, vor dem die ganze weite, reiche Welt offen daliegt. Mendelssohns Talent hat in seiner Idealität einen Mozart analogen Zug – mag auch Mozart der weitaus höhere sein. Ja Mendelssohns Talent hatte von Hause aus sogar etwas Mädchenhaftes – und Zelter, der am musikalischen Himmel als Com- ponist freilich mehr einen Nebelfleck als einen Stern vorstellt, hat, was er als Com- ponist fehlen ließ, als Lehrer dadurch wieder gut gemacht, daß er seinen Felix an der herben Großheit, der strengen Erhabenheit Bachs erstarken ließ. Das war für jene zarte, halb kränkliche Mädchennatur eine Eisenkur. Kerngesund, jugendlich blühend kam Felix aus ihr hervor. Und nun war der Mann der Zeit gefunden – die Leipziger Musiker hatten an ihm stillschweigend den Führer für sich und zugleich einen Namen für ihre Schule gefunden – „Neu-Romantiker“ nannten sie sich. Man kann in Schumanns gesammelten Schriften die Aeußerungen der damaligen Stimmung noch jetzt nicht ohne innige Theilnahme und Anregung lesen – dieses Funkensprühen war etwas Anderes als gewisse spätere elektrische Entladungen, welche Schläge versetzen und nach Schwefel stinken. Mendelssohns Nähe wirkte bildend, veredelnd – ohne ihn wäre Schumann nicht der Schumann geworden, den wir kennen, er wäre vielleicht in der genial-naturalistischen Studentenwirth- schaft seiner ersten Werke stecken geblieben und untergegangen. Niels Gade, unter den Leipziger Musikern anfänglich der originelle „Naturbursche“ aus Nord- land, dessen fremdartig betonte Musiksprache und naiv unbeholfene Musik- manieren ihn erst recht interessant machten, verlor in Mendelssohns bildender Nähe seine allzu rauhen Ecken. Und wie nun Paulus das Morgenroth von Men- delssohns Musik gewesen, so war Elias die Abendröthe; aus dem Jünglinge, der den Paulus gedichtet, war der reife Mann geworden, der den Elias brachte – als Schwanengesang. Als Mendelssohn so rasch, so unvermuthet hinübergenommen worden, tönte ein Ruf der schmerzlichsten Ueberraschung durch Deutschland und wiedertönte aus England. Aber vielleicht starb Mendelssohn zu rechter Zeit und Mancher, z. B. Spohr, hätte ihn darum beneiden können. Zwar zeigt Elias nichts weniger in der Welt als eine Abnahme der geistigen Kräfte und hat er nicht die Jugendfrische des Paulus, so hat er dafür männliche Kraft und Reife. Aber in den Instrumentalsachen besonders begannen sich nicht unbedenkliche Symptome zu zeigen – eine Kühle, eine Glätte, ein äußerer Glanz und Reichthum, der gleichwohl nicht über die Unbedeutendheit des Inhaltes