Seite - 302 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

302 November 1872 175 180 185 190 195 200 205 210 215 täuschen konnte. Dazu beginnender Manierismus und Palingenesien oder (wie die Xenien sich einmal ausdrücken) Palilogien gewisser Sätze, die das erste Mal ent- zückt, das zweite Mal erfreut hatten, aber, wenn sie wiederkehrten, mit zweifelnder Miene begrüßt wurden, das ewige Elfengetrippel und Elfengezappel u. s. w. Ich erinnere statt alles Andere nur an die zweite Violoncellsonate, an das zweite Trio. Die Leute, welche sich durch Mendelssohn ungemein genirt fühlen, deuten auf diese Dinge und Symptome unaufhörlich mit Fingern. Aber Paulus, Elias, die Psalmen, die Streichquartette, die Concertouverturen, die Lieder, das erste Piano- forte- und das Violinconcert, die beiden Symphonien in A, das ist ein Sternen- kranz von Werken, welcher seinem Schöpfer die Unsterblichkeit sichert. Und noch sollte sich uns nach Mendelssohns Tode an ihm eine neue Seite offenbaren. Wir erhielten seine Briefe, erst die von Jugendlust und Poesie über- strömenden seiner Jünglingsjahre, dann die Briefe seiner späteren Zeit. Und da blickten wir nun in die Seele eines wahrhaft edlen Menschen, in ein reines, durch und durch ideales Gemüth. Daß ihn bei seiner persönlichen, unwiderstehlichen Liebenswürdigkeit jene Leute, in deren Nähe er kam, fast vergötterten, ist begreif- lich. Zumal die weiblichen Gemüther, welche immer am wärmsten glauben und am festesten lieben (während andere umgekehrt fest glauben und warm lieben), kannten sich kaum vor Verehrung. Elise Polko’s Mendelssohn-Büchlein ist der lebendigste Ausdruck dafür. Man setzte in Leipzig von Seite der echten Mendels- sohnianer, denen sich eine Schaar hingerissener Mendelssohnianerinnen anschloß, den Meister über Mozart, über Beethoven. Dermal ist, wie in solchen Fällen ge- wöhnlich, der Rückschlag erfolgt. Es sind andere Leute Mode geworden – daß sie in der Folge auch wieder „aus der Mode“ kommen werden, darf man als gewiß annehmen. Dem Wiener Männergesangsverein aber danken wir herzlich für sein schönes Mendelssohn-Fest. Der Lorbeer, mit welchem er die im Saale aufgestellte Büste des Meisters gekrönt hatte, ehrt auch ihn selbst. Die Programm-Nummern waren lau- ter Mendelssohniana, zuerst die „Meeresstille“ und „Glückliche Fahrt“, vom Hof- opernorchester unter Herrn Kremsers Leitung mit gewohnter Tüchtigkeit aus- geführt (nur die Paukenschläge am Schlusse traten allzu dröhnend hervor – wie vortrefflich war der ausgezeichnete Pfund in Leipzig gerade an dieser Stelle!), dann die herrlichen Männerchöre „Wasserfahrt“ und „Der Jäger Abschied“, deren voll- endet schöne Aufführung besonders in der „Wasserfahrt“ zauberhaft wirkte – fer- ner das Frühlingslied („Der Frühling naht mit Brausen“) und das Volkslied: „Es ist bestimmt in Gottes Rath“, beide augenscheinlich nicht ohne Beziehung auf den früh verklärten Meister gewählt – und von Frau Louise Dustmann gesungen, welche, dem stürmischen Wunsche des Publicums nachgebend, noch das kleine, zarte „Leise zieht durch mein Gemüth“ zugab. Das Frühlingslied trug Frau Dust- mann hinreißend vor, im Volkslied, das ganz schlicht und treuherzig und mit Empfindung, aber ohne Empfindelei gesungen werden will, that sie meines Erach- tens des Guten zu viel. Die Stelle „Dann weine“ brach im Tone wirklichen Wei- nens und so weiter. Ich halte die Manier gerade unserer besten und gepriesensten Liedersänger, jedes Wort des Textes malend zu betonen, für etwas bedenklich – mir fällt dabei zuweilen mein alter, seliger Großoheim ein, der die malende Plastik