Seite - 306 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

306 November 1872 10 15 20 25 30 35 40 45 50 Held. Man kann ein großer Tonsetzer, aber am Dirigentenpulte ganz und gar nicht an seiner Stelle sein, wie z. B. Beethoven, auch abgesehen von seiner späteren Ge- hörlosigkeit, oder wie Robert Schumann – man kann sich aber auch wie Mendels- sohn als Tonsetzer und als Dirigent in gleicher Weise auszeichnen. Bei Johannes Brahms ist letzteres der Fall. So überaus hoch wir Brahms als Tonsetzer stellen (wir behalten uns vor, nach der bevorstehenden Aufführung seines „Triumphliedes“ über dieses Capitel ein Wort zu sagen), so würden wir dieser tief sinnigen Künstler- natur doch an der Spitze des Orchesters den richtigen musikalischen Feldherrnzug, die eingreifende Energie, das belebende Feuer eben doch kaum in diesem Grade zugetraut haben. Glänzend hat er sich bewährt, die Aufführung war vom ersten Anfang bis zum letzten Ende vortrefflich. Wie nach dem biblischen Spruche man das Brausen des Sturmes hört, ohne sagen zu können, woher er kommt, oder wie nach des Dichters Ausdruck „des Gesanges Wellen strömen aus nie entdeckten Quellen“, so belebt Aufführungen dieser Art ein Geist, den man wohl fühlt, von dem aber kein Mensch zu sagen wissen wird, woher er gekommen. Nur so viel wird deutlich: am Ende ist es immer Dirigent der Zauberer, der diesen Geist herbeiruft und ihm gebietet. Bei anderer Gelegenheit die selben ausführenden Kräfte, aber eine geistlose Abhaspelung des Taktirens am Capellmeisterpulte und man be- kommt Notenrichtigkeit allenfalls, aber nicht das Kunstwerk im Geiste und der Wahrheit zu hören; den tödtenden, oder, hier richtiger, unlebendigen Buchstaben und nicht den lebendig machenden Geist. Mit der Berufung Brahms’ hat also die Gesellschaft ohne Zweifel einen sehr glücklichen Griff gethan. Den Anfang des Concertes bildete Händels Dettinger Te-Deum. Es hat uns innigst wohlgethan, wieder einmal seine Tonsprache zu hören. Voll Mark und Nachdruck, einfach und einfältig, streng, großartig, ja herb, ist sie hinwiederum an rechter Stelle Ausdruck der zartesten, innigsten Empfindung, aber auch dann männlich; von weichlicher oder gar krankhafter Sentimentalität, wie sie in der neueren Musik leider mehr als zu viel Boden gewonnen hat, weit entfernt. Platon würde aus seiner Republik z. B. Spohr sicher verbannt, aber Händels Musik würde er eben so sicher erlaubt haben, denn sie würde ihm „kräftigend zu Tugend und mannhafter That“ erschienen sein. Der alterthümliche Zug, den sie für uns hat (den Zeitgenossen klang sie, wie natürlich, „modern“), giebt ihr einen Reiz mehr. Von aller Musik der Welt hat sie gewiß die meiste anklingende Analogie zur Bibel- sprache des alten Testamentes und darum gelangen Händel die Charakterbilder alttestamentarischer Helden wie keinem sonst; in seinem „Israel in Aegypten“, „Judas Maccabäus“, „Salomo“ u. s. w. bleibt er unübertroffen. Daß er aber auch als dramatischer Componist im Sinne des Geschmackes seiner Zeit Großes leistete, werden wir, selbst wenn wir in Chrysanders und Gervinus’ unbedingte Bewunde- rung einzustimmen Bedenken tragen sollten, gerne anerkennen. Seine Größe zeigt sich auch hier. Gegen die Arie der Juno in seiner „Semele“ erscheinen die her- kömmlichen Wuth- und Rachearien der damaligen italienischen Oper, womit die Prinzessin den perfido traditore abkanzelt, wie naßkalter Sprühregen gegen ein donnerrollendes Hochgewitter. Selbst der Humor bleibt dem scheinbar so ernsten Meister nicht fremd, sein Polyphem in „Acis und Galatea“ ist ein musikalisches Charakterbild, welches wohl