Seite - 307 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

307 November 1872 55 60 65 70 75 80 85 90 95 neben Shakspeare’s Kaliban genannt werden darf. Selbst auch hier indessen tritt „the monstre“ (wie Polyphem im Texte genannt wird) ganz grandios auf. Wenn wir von Händel’schem Musikstyl sprechen, so ist es eben die eigene Großartigkeit, welche ihn gleichsam persönlich kennzeichnet; denn im Uebrigen und Allgemei- nen ist es der italienische, näher gesagt: der neapolitanische Musikstyl der Zeit. Dieser Styl, der sich wie im ersten Keime schon in den späteren Opern Cavalli’s ankündigt (zum Beispiele in seinem 1669 für das Theater zu S.  Giovanni e Paolo componirten „Alcibiade“, den indessen Leo Allacci’s Verzeichniß dem Pietro Ziani zuschreibt) und hin und her, wiewohl selten und vereinzelt, aber dann bestimmter ausgesprochen bei Alessandro Stradella auftaucht, gewinnt erst seine volle Gestalt und Farbe bei Alessandro Scarlatti, dessen Musik unglaublich „händel’sch“ aus- sieht so wie Händels Musik erstaunlich scarlattisch und letzteres vor allem Ande- ren deßwegen, weil Händel die zahllosen Werke des großen Neapolitaners fast als eine ihm tributspflichtige Provinz ansah und behandelte, aus welcher er an Moti- ven ganz offen nahm, was ihm eben brauchbar schien. Aber dann ist es immer in hohem Grade interessant zu sehen, was und oft genug was Erstaunliches er aus dem scarlatti’schen Hab und Gut zu machen weiß. Die Nemesis hat ihn ereilt; denn Mozart nahm, wie allbekannt, so offen und ungescheut Händel’sche Motive in sein Requiem, daß, wie abermals allbekannt, Gottfried Weber seinen Wind- mühlenkampf gegen die Echtheit des Requiem von diesem Punkte aus anfing. Ein Zufall, aber merkwürdig genug ist es, daß im ersten Chore des Dettinger Te- Deum das contrapunktische Motiv, womit die Altos nach dem ersten Tutti einsetzen, wörtlich und buchstäblich in dem Duett der Pagen Curzio und Marzio in Stefano Landi’s „Sant Alessio“, einer um 1630 in Rom aufgeführten und Händel sicher ganz unbekannt gebliebenen Oper, vorkommt. Was nun das eben genannte Te-Deum betrifft, so setzte sich Händel 1743 nach dem Siege bei Dettingen zu seinem Notenpapiere, um ein musikalisches Gelegen- heitsstück zu schreiben, und schuf ein Werk von ewigem Gehalt, dessen letztes Blatt er ohne weiters mit dem stolzen Spruche des lateinischen Dichters hätte be- zeichnen dürfen: „opus exegi, quod u. s. w.“ Er schlägt ein wie der Donner, wenn er will, meinte Mozart von Händel – und wirklich haben wir hier den ganzen Händelius tonans vor uns. So gewaltig das Stück im Concertsaale wirkt, ich meine doch, daß es in der Kirche, gut aufgeführt, und mit dem uralten lateinischen Ritualtext noch ganz anders wirken müßte – man kann an Mozarts Requiem die- selbe Erfahrung machen. Die englische Uebersetzung des ambrosianischen Lobge- sanges ist ganz treu, wenn es aber im Originale z. B. heißt: „te per orbem terrarum sancta confitetur ecclesia – patrem immensæ majestatis“ so wirkt auch nur schon ge- lesen der letztere Anruf wie ein Donnerschlag; das englische: „the holy church throughout all the world doth acknowledge Thee, the father of an infinite majesty“ klingt, abgesehen von dem herzlich Kakophonischen der Sprache, matt dagegen. Und wenn es zum letztesten Schlusse heißt: „let me never be confunded“ und in der deutschen Uebersetzung gar „wirf mich nicht in das Verderben“, so steht dieser Text mit der in sicherer Glaubensfreudigkeit jubelvollen Händel’schen Musik die- ser Stelle in offenem Widerspruch – wohl aber läßt sich zu dem non confundar in æternum des Originals keine bessere musikalische Interpretation denken. Händel