Seite - 313 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

313 November 1872 10 15 20 25 30 35 40 45 50 chem Hanslik in einer künftigen neuen Auflage seiner „Geschichte des Concert- wesens in Wien“ jedenfalls ein neues Capitel wird eröffnen müssen, habe ich noch an Herrn v. Bülow eine Schuld abzutragen und über seinen Chopin-Abend einge- hender, als ich kürzlich in wenigen Worten that, zu berichten, indem ich den da- rauf folgenden Schumann- und Mendelssohn-Abend unmittelbar anknüpfe und alles zusammen die „Neuromantiker-Abende“ nenne. Bilden doch Chopin, Mendelssohn und Schumann in der Musik der dreißiger und vierziger Jahre mit einander Eine Gruppe, und künftige Zeiten und Histori- ker werden sich vielleicht gewöhnen, diese Namen mit einander zu nennen, wie wir gerne Bach und Händel, Mozart und Haydn, Beethoven und Schubert sagen. Von jenem Dreigestirn wurde uns durch Herrn v. Bülow zuerst Chopin vor geführt, der „seltene Stern in später Nachtstunde“, wie ihn Schumann einmal nannte. Chopin war bekanntlich eben so außerordentlicher Pianist, wie er als Compo- nist eine ganz eigenthümliche Seite der „neu-romantischen“ Musik repräsentirt, zu welch’ letzterer bei ihm, dem Polen, noch eine stark betonte nationale Seite (in künstlerischem Sinne nämlich) hinzukommt und Allem eine ganz eigene, aber allerdings überall die gleichartige Grundfärbung giebt. Eine zarte, träumerische, kränkliche, nervöse Natur, deren Nervosität sich (wie seine Freundin und Beschüt- zerin George Sand erzählt) bis zu geisterhaften Visionen steigerte, bannt er uns als Künstler in einen Kreis, der etwas Traumhaftes hat. Und so war er auch als Spieler – man vergaß dabei den Virtuosen über dem Dichter und träumte so lange, als seine Finger die Tasten belebten. Sein Spiel schied sich von der goldklaren, feinge- prägten Spielweise Mendelssohns eben so sehr wie von dem veredelten Salonstyl Thalbergs, von den Wettern und Stürmen Liszts und von den „rollenden Perlen“ der älteren Virtuosenschule, von welcher damals noch einzelne Vertreter übrig wa- ren. Chopins Spiel war ganz eigen weich, duftig; wie weichen Sammt berührte er die Tasten. „Denke man sich“, sagt Schumann, „eine Aeolsharfe hätte alle Tonlei- tern und es würfe diese die Hand eines Künstlers in allerhand phantastischen Verzierungen durch einander, doch so, daß immer ein tieferer Grundton und eine weich fortsingende höhere Stimme hörbar, und man hat ungefähr ein Bild seines Spieles.“ Das ist eine Spielweise, die gewiß von der mehr nach Liszt und Mendels- sohn deutenden Bülows von Hause aus sehr verschieden ist. Aber Bülow ist ein Tausendkünstler in höherem Sinne – er gleicht jener americanischen Nachtigall, die allen anderen Singvögeln ihre Weisen trefflich nachzusingen weiß. So wurde denn Bülow einen Abend lang Chopin, ob er gleich seine festere, plastischere Spiel- weise nicht ganz verläugnen konnte. Ich erinnere mich eines Nachmittags, wo in Paris einige musikalische Freunde (unter ihnen Alexander Dreyschock) Chopin besuchten. Er bezauberte sie völlig durch sein Klavierspiel. Aber trotzdem, als sich die Herren empfohlen hatten, auf dem Boulevard, rief einer plötzlich im gedenk- barsten Fortissimo: „Pah!“ Die Freunde stutzten, die Spaziergänger sahen sich um und die Polizei horchte auf. „Ach“, rief jener, „ich habe nur nach der langen Säu- selei wieder einmal einen kräftigen Ton hören wollen.“ Nach Bülows Chopin-Abend hätte der Freund nicht nöthig gehabt „Pah“ zu rufen. Bülow spielte die H-moll-Sonate, Mazurkas, Walzer, Notturnos u. s. w. Das Aeolsharfenmäßige der Notturnos wurde uns so schön entgegengebracht wie die