Seite - 314 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

314 November 1872 55 60 65 70 75 80 85 90 95 pikanten Rhythmen und Accente der Mazurkas und Walzer. Am nächsten Abend kam zunächst Schumann an die Reihe. In dem Schilling’schen Lexikon wird beim Artikel Schumann erzählt: „Schu- mann sei, als er Chopin begegnete, vor ihm wie vor einem Doppelgänger erschro- cken, dasselbe Talent, dieselbe Richtung“ u. s. w. Möglich, daß der stets jean- paulisirende Schumann sich einen Moment lang dergleichen einbildete, denn bekanntlich spielt das Motiv der Doppelgängerei bei Jean Paul eine große und übergroße Rolle. Aber eine gründlichere Widerlegung jenes Ausspruches konnte es nicht geben, als Bülow sie uns brachte. Chopin ist weich, träumerisch, Schumann aufgeregt, phantasievoll und zuweilen phantastisch; Chopin bewegt sich in einem kleinen Gefühlskreise, in welchem er allerdings ein wahrer Magus ist, Schumann sucht und findet Tonsprache für Alles und Jedes; Chopin bringt in verschwim- menden Umrissen magische Nebelbilder, Schumann sucht, wie sein Liebling Schubert, Zeichnung und Farbe für Individuellstes, er ist mit bezeichnenden Ueber schriften seiner Tonstücke, mit malender Musik nichts weniger als sparsam; Chopin ist durch und durch Pole-Franzose (être Polonais c’est encore être Français steht irgendwo in Alexander Dumas), Schumann ist ein erz- und herzdeutscher Componist. Schumann nahm seinen Ausgang nicht von Chopin, sondern von Franz Schubert. „Es war eine Zeit“, erzählt er selbst, „wo ich nur ungern über Schubert sprechen, nur Nächtens den Bäumen und Sternen von ihm vorerzählen mögen; wer schwärmt nicht ein Mal!“ Als Mendelssohn nach Leipzig berufen wur- de, wirkte die Nähe dieses edlen Geistes außerordentlich bildend auf Schumann ein, – er wurde nicht das, was man damals einen „Mendelssohnianer“ nannte, aber er lernte Maß, Klarheit, feste, solide Technik und Textur. Ueber Mendelssohn, der in seiner künstlerischen Erscheinung selbst aus Bach und Beethoven am kürzesten und bestens zu erklären ist, hätte Schumann den Weg zu Bach und Beethoven gefunden, hätte er die beiden Geistesriesen nicht schon früher tief verehrt. Er hät- te zu ihnen den Umweg über Mendelssohn nicht gebraucht, aber endlich war es doch Mendelssohn, der ihm den Muth gab ihnen ganz direct nachzustreben, so- bald sich Schumann stark genug dazu fühlen konnte. Dies Gepräge tragen Schu- manns beste und schönste Compositionen deutlich genug; später verdüsterte sich des Meisters Sinn und mit ihm die Werke. Bülow brachte uns eine wohlgeordnete Reihe Schumann’scher Compositio- nen, voran die dritte Sonate, vielleicht Schumanns bedeutendste, wiewohl, wenn man die Stimmen der Beurtheilenden nicht wägt, sondern zählt, die zweite den Preis davontragen dürfte. Es ist in dieser dritten wieder der Sturm und Drang der ersten lebendig geworden (kaum daß das schöne Andante-Thema von Clara Wieck mit den geistvollen Variationen einen ruhiger reflectirenden Moment hinein- bringt), aber während in der Erstlingssonate der Sturm und Drang den Tondichter mit sich fortreißt, beherrscht er ihn jetzt künstlerisch und weist ihm seine Wege. Eine Concertnovität (ich glaube nicht, daß jemand das Stück früher öffentlich gespielt) war der „Faschingsschwank aus Wien“. Es ist gegen diese von Geist und Leben sprühende Composition und ihre fünf Sätze nichts weiter einzuwenden, als daß es erstlich Alles in der Welt eher ist als ein Faschingsschwank, und zweitens, daß keine Wiener Luft darin weht. Eher spanische.