Seite - 315 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

315 November 1872 100 105 110 115 120 125 130 135 140 Die reizende Romanzine mag, wenn schon ein Bild sein soll, nach Sevilla ver- setzen, in heller Mondnacht, der Caballero klimpert unter dem Balcon sein Ständ- chen und von oben lauscht halb versteckt die schöne Donna – das Scherzino ist auch ganz spanisch-ritterlich. Die Anspielung mit der zum Walzer travestirten Marseillaise ist nicht glücklich und auch musikalisch nicht interessant. „Wie Kirschen und Beeren behagen, muß man Kinder und Sperlinge fragen“ – über Faschingsschwänke aus Wien weiß nur der eingeborene Wiener zu berichten. Den richtigen Faschingsschwank aus Wien brachte musikalisch mit Schumann gleich- zeitig jemand Anderer uns völlig richtig: Johann Strauß nämlich und vor diesem auch schon Franz Schubert in seinen deutschen Tänzen und Ländlern. Mendels- sohns feine künstlerische Vollendung trat mir (kaum darf ich’s gestehen) kaum je schöner entgegen, als so unmittelbar nach Schumanns Phantasiestücken. Es ist jetzt „Ton“, Mendelssohn gegen Schumann herabzusetzen; – ich dächte aber, man ließe sie besser an ihren Ehrenplätzen, sie ergänzen einander und gehören zusam- men. Schumanns „Peri“, seine „Pilgernde Rose“, selbst seine „Faust“-Musik (dritter Theil) zeigen unzweifelhaft, daß er z. B. nie im Stande gewesen wäre, Oratorien wie „Paulus“ und „Elias“ mit ihrer großartigen musikalisch-architektonischen Disposition zu schreiben – man merkt doch immer mehr oder weniger, daß Schu- mann als Kleinkünstler angefangen. Schumanns und Mendelssohns Symphonien, Concerte, Klavierstücke, Lieder, die „Manfred“-Musik und die „Sommernachts- traum“-Musik u. s. w. – ein Jedes hat da große Vorzüge, die das Andere zufällig eben nicht hat. Lasse man denn beide Meister gelten! Was aber das Capitel der Oper betrifft, so fällt mir, wenn ich an Schumanns „Genofeva“ und Mendelssohns „Loreley“-Fragment denke, immer an die Geschichte von dem Juden, der zwei Dorfgeiger streiten hörte, wer von ihnen ein Virtuose sei. „Wenn ich das könnt’“, sagte Schmul, „was ihr alle beide nicht könnt, so wär’ ich ein Virtuos!“ Von Bülows Ausführung der gewählten Stücke müßte ich nur schon Gesagtes wieder- holen. Insbesondere habe ich mir den Vortrag des herrlichen, poetischen Klavier- stückes, das Mendelssohn, weil die Sache doch einen Namen haben muß, in Er- manglung eines besseren „Caprice“ betitelt hat, in meine Bülow-Reminiscenzen mit goldenen Buchstaben eingezeichnet. Das Orgelconcert war massenhaft besucht, alle Welt wollte das Weltwunder der neuen Orgel hören. Daß Ladegast, der Erbauer, stürmisch gerufen wurde, war nur gerecht. An Herrn August Fischer aus Dresden lernten wir einen Orgelvirtuo- sen hohen Ranges kennen. Durch sinnreiche Wahl und Mischung der Register insbesondere wußte er dem herrlichen Werke die mannigfachsten und bezau- berndsten Klangfarben abzugewinnen. Er spielte die Toccate in D-moll von J.  S. Bach (deren berufener Quintengang ihr eine gewisse Popularität verschafft hat), ein prächtiges Concert von Friedemann [sic] Bach (wo im „Siciliano“ die Melodie vom Oboen-Register, die Begleitung mit Rohrstimmen ausgeführt, von größter Wirkung war), eine wundersam schöne Sonate von Mendelssohn und zuletzt eine von Liszt über die Töne B, A, C, H, also zu Ehren Bachs componirte Phantasie, bei welcher, wie ich glaube, der so Gefeierte zu manchen Einzelheiten verwundert dareinschauen würde. Neben gearbeiteten Stücken der beiden Bach und Mendels- sohns hat ein Improvisator, der mit ähnlichen Mitteln wirken soll, einen schweren