Seite - 330 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

330 November 1872 5 10 15 20 25 30 35 40 45 Die Concerte, die interessanten Opernaufführungen häufen sich und die Göttin Musik scheint sich den gütigen Titus zum Muster zu nehmen und hält den Tag für verloren, an dem sie uns nicht eine Wohlthat (zuweilen auch das Gegentheil) er- weist. Die Kritik aber humpelt hinter all’ der Musik her, wie in der bekannten Allegorie die hinkende Strafe hinter den Lastern, holt sie aber, gleich jener, am Ende doch ein; womit übrigens nicht gesagt sein soll, daß das Concertgeben etwa ein Laster sei – wenigstens nicht immer. Indessen ist bereits der Moment da, wo die Kritik am besten thut, gleich Jean Pauls Pastor Eymann, „der an Bußtagen die Seelen bündelweise reinigte“, immer ein ganzes Bündel Musik auf einmal zu er- ledigen! Sehen wir denn zu! Vom Hofoperntheater haben wir das mißglückte Debut einer Margaretha von Valois oder eigentlich ihrer Darstellerin zu notiren, welcher nicht eine wirk- lich feine Gesangsbildung mangelte, wohl aber durchaus die Kenntniß dessen, was für die Opernbühne unentbehrlich ist. Es ist ganz etwas Anderes, im Con- certsaale mit dem Notenblatte in der Hand seinen Part einem Concertpublicum vorzusingen, als sich im Operntheater für drei Stunden in eine Margaretha von Valois, Alice, Lucia u. s. w. verwandeln zu sollen. Darum sind Agathe und Aenn- chen so überaus willkommene Rollen für junge Anfängerinnen, weil diese, je nachdem der Himmel sie von Hause aus nach der sentimentalen oder nach der schalkhaften Mädchenschablone gemodelt hat, in diesen Partien nur sich selbst darzustellen brauchen. Agathe und Aennchen bringen uns ganz bequem auf ihren Schöpfer Karl Maria von Weber und dessen „Abu Hassan“. Bekanntlich ärgerte sich Karl Maria entsetzlich über den Erfolg seines „Freischützen“, das heißt: nicht über den anfäng- lichen – der war ihm schon recht – wohl aber, als er mit seiner „Euryanthe“, der Mutter unserer ganzen „Zukunftsmusik“, hervortrat und die Leute über den „Frei- schütz“ des Lobes und der Bewunderung kein Ende finden konnten, als er in sei- nem „Oberon“ ein Werk geschaffen, in welchem der farbenprächtige, phantasti- sche Zauber des Orients und die duftige Mährchenwelt des Elfenreiches sich zu einem in seiner Art einzigen Ganzen verbinden, und Leute, die ihm Tags nach der ersten Aufführung vorgestellt wurden, sich glücklich priesen, den Componisten des „Freischützen“ kennen gelernt zu haben. Lebte Weber noch, so könnte er jetzt eine vermehrte und verbesserte Neu-Auflage seines Aergers veranstalten. Denn auch dem älteren Bruder „Abu Hassan“ stellt sich dieser fatale „Freischütz“ quer und breit in den Weg. Statt uns an der Quellenfrische, der Melodienfülle, dem reizenden Humor, der blühenden Orchestration nach der langen Hungerzeit und Spitalsdiät oder aber der ungesund ver- und überwürzten Kost, zu der uns unsere modernen Ope- rettencomponisten verurtheilt haben, kurz und gut zu erquicken, ängstigen wir uns mit der ganz unnützen Frage ab, ob denn dieses Operettchen vom Jahre 1810 nicht bloß von „Freischützens“ Gnaden lebe und zu toleriren sei. Ich sage: mit der unnützen Frage. Denn jenes reizende Werk oder Werkchen bleibt, auch ohne „Freischütz“ und Webers daher erworbene Meriten, ein kleines Juwel. Man darf sogar sagen, daß es schon vom „Freischützen“ an ist, als habe Weber den Ton für Scherz, für Humor gar nicht mehr finden können, wenigstens nicht den rechten.