Seite - 334 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

334 November 1872 185 190 195 200 205 210 Schauspieler auf der Bühne dieselben Worte bringen würde. Unser Publicum ist nun eben gewöhnt, die starken Lichter, Schatten und Drucker des Operntheaters auch in den Concertsaal und Liedergesang übertragen zu sehen. Daher fanden Manche die Singweise der Frau Joachim anfänglich „etwas kühl“. Aber nach und nach gingen sie auf die Sache ein und mit Mendelssohns „Leise zieht durch mein Gemüth“ hat die Sängerin diesmal und also wohl ein für alle Mal den Sieg gewon- nen. Die Händel’sche Arie aus „Jephtha“ war uns sehr interessant, weil sie uns zeigte, was Frau Joachim im Oratorium, in welchem sie in Nord-Deutschland des größten Rufes genießt, sein mag. In Herrn Hellmesbergers erstem Quartett freuten wir uns des mächtigen Kla- vierquartetts in G-moll von Brahms, eines jener Werke, auf welche man mit Trost blicken mag, wenn man einmal geneigt ist, unsere Zeit epigonenhaft zu schelten. Und dann Beethovens Quartett, op. 132 [sic]! Wie haben wir doch diese Tonspra- che verstehen gelernt! Noch vor einem Jahrdreißig galt dergleichen für apokalypti- sche Musik! Nach so viel hochgeschätzten und anerkannten Künstlern fasse ich nun eine schüchterne junge Künstlerin bei der Hand und führe sie vor – die Pianistin Fräu- lein Leopoldine Pfuhl. Sie bestand in ihrem Concert mit Ehren, sie hat Talent und hat etwas Rechtes gelernt und, was mehr, sie ist recht und echt musikalisch – ein Zeugniß, das wir ihr geben dürfen, ungeachtet das Andante in Beethovens großer F-moll-Sonate (welche einst Clara Wieck bei uns einbürgerte) den rechten poeti- schen Hauch und die rechte Wärme vermissen ließ. Ich denke aber, diese Wärme ist in der jungen Pianistin, wie ein Physiker sagen würde, einstweilen noch „latent“. Den Schlußsatz derselben Sonate spielte sie überraschend trefflich, so auch den Schluß von Schumanns „Carneval“, wogegen die einzelnen Figuren des Pierrot u. s. w. zu abgeblaßt herauskamen. Strebe sie weiter, wir werden uns freuen, ihr wieder zu begegnen. Somit hätten wir für diesmal den „Concertschub“ kritisch erledigt – das Wei- tere folgt! Rezensierte Veranstaltungen Meyerbeer, Die Hugenotten, 20. November 1872, Hofoper ◼ Weber, Abu Hassan, 17.  November 1872, ebd. ◼ Schubert, Der häusliche Krieg/Die Verschwornen, 17.  November 1872, ebd. ◼ „Monstre- Konzert“ des Wr. Musikerbundes, 24.  November 1872, MVgr. ◼ Zweites Konzert von Clara Schumann und Amalie Joachim, 26.  November 1872, MVkl. ◼ Erstes Konzert des Hellmesberger-Quartetts, 21.  November 1872, MVkl. ◼ Konzert von Leopoldine Pfuhl, 22.  November 1872, Bösendorfersaal Rezensierte Werke Johann Sebastian Bach: Präludium und Fuge für Orgel e-Moll BWV  533 (Klavierbearbeitung von Clara Schumann) ◼ Beethoven: Klaviersonate f-Moll op.  57 (Appassionata), Ouvertüre zu Egmont op.  84, Streichquartett Es-Dur op.  127 ◼ Berlioz: „Rákóczi-Marsch“ aus La Damnation de Faust op.  24 ◼ Brahms: Klavierquartett g-Moll op.  25 ◼ Chopin: Scherzo b-Moll op.  31 ◼ Gluck: Gavotte A-Dur aus Iphigénie en Aulide (Klavierbearbeitung von Brahms) ◼ Georg Friedrich Händel: Arie [näher nicht ermittelt] aus Jephtha HWV  70 ◼ Mendelssohn: