Seite - 371 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

371 Jänner 1873 110 115 120 125 130 135 140 145 150 hier nur so viel: schon die Musik der großen Contrapunktisten von 1600, ja von 1500 (Josquins und Orlando’s vor Allen) horcht auf ihren Text und sucht nach natürlichen Accenten des Ausdrucks. Wirklich dramatisch kann sie einstweilen nicht werden, sie ist gottesdienstlich; der Priester am Altare aber hat seine rituellen, ceremoniellen Gesten vorgezeichnet und darf am allerwenigsten etwa theatralisch agiren – in der Musik ist’s analog. Von 1600 an sucht die Musik, welche sofort das Drama (die Oper, wie wir sagen) auf ihrem Wege findet und leidenschaftlich erfaßt, den natürlichen Ausdruck der Rede in ihrem Style rappresentativo und recitativo wiederzugeben. An Stelle der alten Kirchentöne tritt Dur und Moll, der natürliche einfachste Ausdruck für die zwei großen Gegensätze in der Musik-Lust und -Trauer. Hier lernt nur im Laufe von kaum fünfzig Jahren (schon bei Monte- verde, Carissimi und Cavalli) die Musik den richtigen Ausdruck fürs Einzelne – es steigert und verfeinert sich, je mehr Meister nachgerückt kommen. Jetzt hat unse- re Musik im musikalischen Drama Ausdruck für alles Mögliche, einen Ausdruck, den wir gerne zugeben, er sei natürlich und wahr, bei dem aber, läugnen wir’s nicht, auch Vieles conventionell und von den Tonsetzern justo titulo gleichsam er- sessen ist. Wir haben die Sprache der Musik gleichsam wie eine andere Sprache erlernt. Für Liebe, Andacht[,] Schrecken, Schauder, Freude, Angst, Reue, Tröstung, für Alles haben wir von der Oper her fix und fertig unsere musikalische Phraseologie, ja das Mährchenreich der Elfen, die Schrecken der Dämonenwelt – Alles hat seine bestimmten musikalischen Umrisse, sein musikalisches Colorit gewonnen. Nach und nach allerdings. Man vergleiche zum Beispiel, wie das Feen- und Mährchen- hafte in Isouards „Cendrillon“ und wie es in Webers „Oberon“ gemalt ist. Das ganze Geheimniß von Tondichtungen, wie sie zum Beispiel eben auch Julius Zell- ners „Melusina“ in glücklicher und schöner Weise repräsentirt, ist nun: man ge- braucht jene wohlbekannte, Allen verständliche musikalische Phraseologie, aber ohne gesungene, erklärende Worte – rein den Instrumenten zugewiesen. Man denkt sich einen Text, wennauch nicht wörtlich, recht ausdrücklich und Vers nach Vers – und setzt ihn in Musik. Mein Recept wird den Leser vielleicht an den alten Scherz erinnern: um eine Kanone zu machen, müsse man ein Loch nehmen und es rundherum mit Metall umgeben – ich kann ihm diese Reminiscenz nicht wehren, aber jeder Tonsetzer, der sich auf dem Gebiete versucht hat, wird mir Recht geben. Die Feinheit und Wahrheit des Ausdrucks ist bei Zellners Tondichtung hoch an- zuerkennen. Der Moment des „Eides“ ist so gegeben, daß man Worte dazu singen möchte, und in dem letzten ergreifenden Stücke („Raymunds Buß- und Pilger- fahrt“) ebenso der Augenblick, wo er die Gestalt der mit so verzehrendem Schmerz gesuchten, verlornen Melusina am Brunnen erblickt und auf sie loseilt, sie einan- der fassen und Raymund im Kusse der Geliebten stirbt. Der Rückblick auf das „Duett“ Raymund und Melusinens (wie man es nennen muß), welches wir in der ersten Nummer, bei ihrem ersten Begegnen am Brunnen gehört, sagt hier Alles. So ist der aufblitzende Verdacht in Raymund (im vierten Sätzchen) wahr und be- zeichnend wiedergegeben – ja Zellner detaillirt auch wohl so weit, daß zum Bei- spiel vor dem Hochzeitsmarsch (ganz wie auf Schwinds Zeichnung) das Heran- jagen der berittenen Ritter und Damen in zwei getrennten Chören ganz deutlich