Seite - 390 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

390 Februar 1873 60 65 70 75 80 85 90 95 100 Heurigen“ (das heißt aus dem Wienerischen ins Deutsche übersetzt: um jungen, im Vorjahre gekelterten Wein zu trinken), der nach des Tages Last und Mühe beim Glase Punsch im Kaffeehause die Mitternacht heranwacht, das ist der Schubert mit der Seele Nummer eins, – Schubert, der aus seiner Seele das Edelste hervorholt und es uns in Tönen sagt, dieser Schubert holt dieses Edelste natürlich aus der Seele Nummer zwei. Aber die Seele Nummer zwei hätte sich nicht zum Himmel und zu den ewigen Sternen emporschwingen können und doch in jenen Geister- welten die volle blühende Farbe des Lebens behalten, hätte nicht die Seele Num- mer eins auf der festen, grünenden, blühenden Erde so sicheren Fuß gefaßt. Für die Musikschriftstellerei, welche etwas Besseres und Höheres bringen will als die Tagesnotiz und die Tagesrecension, fängt auch Schubert an ein Lieblings- gegenstand zu werden. Die Grundlage zu allen biographischen Schriften über ihn hat Heinrich v. Kreißle mit seinem 1861 erschienenen, anspruchslos auftretenden und dennoch als Resultat sorgsamer, liebevoller und gewissenhafter Nachfor- schungen so reiches und werthvolles Material bietenden Büchlein geboten: „Franz Schubert, eine biographische Skizze“. Der Gegenstand ist hier so erschöpfend be- handelt, daß den Nachfolgern kaum noch etwas Anderes übrig blieb, als in dem streng Biographischen das von Kreißle Gesagte zu wiederholen, „nur mit ein bis- chen and’ren Worten“, wogegen ihnen Kreißle, der sich über den musikalischen und ästhetischen Werth der einzelnen Werke Schuberts nur mit sehr zurückhal- tender Bescheidenheit ausläßt, vollauf Gelegenheit ließ, in dieser Richtung allen möglichen Geist und Tiefsinn zu entwickeln. Und in der That ist diese Gelegen- heit mit zum Theile glänzend zu nennenden Resultaten benützt worden. Eigentlich war es Schumann, welcher den Anfang machte, lange vor dem Er- scheinen des Kreißle’schen Schriftchens, nämlich im Jahrgange 1835 seiner neuen Zeitschrift, wo wir zuerst und zwar in einem Aufsatze, der gar nicht Schubert, sondern Ferdinand Hiller angeht, ein Stichwort lesen, das dann z. B. in Reißmanns Schubert-Buch Stoff zu einem sehr ausführlichen und anziehenden Capitel gege- ben hat; Schumann schreibt nämlich: „Einen Zug der Beethoven’schen Romantik, den man den provençalischen nennen könnte, bildete Schubert im eigensten Geist zur Virtuosität aus.“ Gegen diese Bemerkung ist nur das Eine einzuwenden, daß Schumanns Phantasie, da sie die Vergleichung suchte, nach Süd-Frankreich irre ging, statt an die rechte Stelle, nach Süd-Deutschland zu gehen. Als Schumann späterhin eine Zeitlang in Wien gelebt hatte, fand er es richtig heraus, wie sein geistvoller Aufsatz im Jahrgange 1840 über Schuberts C-dur-Symphonie beweist, wo er den Wiener Localton Schuberts sehr wohl bemerkt und in sehr interessanter Weise betont. Die erste eingehende Schilderung von Schuberts künstlerischem Charakter gab Schumann zum Schlusse des Jahrganges 1835, bei Gelegenheit einer Bespre- chung der Sonaten op.  30, 42, 53, 78. Schumanns begeisterte Liebe für Schubert spricht hier und noch sonst öfter aus verschiedenen gelegentlichen Aeußerungen. Es ist fast rührend, wenn Schumann einmal auf dem Titelblatt des einen Jahrgan- ges den längst verstorbenen Schubert unter den dort namhaft gemachten Mit- arbeitern mit aufzählt, weil der Jahrgang selbst einige ungedruckt und nie für die Veröffentlichung bestimmt gewesene Aufsätze und Verse Schuberts brachte.