Seite - 399 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

399 März 1873 75 80 85 90 95 100 105 110 115 Provenienz nach der neapolitanische der Schule Durante-Scarlatti war – sehr viel dazu bei, die Arien Händels fast wie nothwendige Uebel neben seinen Chören er- scheinen zu lassen. Man hatte nicht Kraft genug, durch die „veraltete“ Form den oft höchst be- deutenden Inhalt zu erkennen – an vielen Orten und bei vielen Aufführungen waren es endlich auch die Sänger, welche gar nicht recht wußten, wie sie diese verwünschte Art Musik herausbringen sollten, sich mit den langathmigen Colora- turen in mitleiderregender Weise herumbalgten, wie im Traume phrasirten und insbesondere, zu schrecklicher Langweile, das da capo in ihrem Vortrage zur ge- treuen, buchstäblichen Tautologie der parte prima machten, während z. B. die Mara mit der dreimaligen Steigerung das „ich weiß, daß mein Erlöser lebt“ meist alle Zuhörer hinzureißen verstanden hatte. In ganz desperaten Fällen ließen sie auch wohl eine Arie kurz und gut aus – wie denn z. B. eine der wunderwürdigsten Alt-Arien in Messias „Du fuhrest in die Höh’“ überall wegbleibt. Unverkennbar ist hierin eine Aenderung eingetreten. Nicht bloß die neuen, schönen Händel-Ausga- ben, sondern die größere Bekanntschaft mit jener ganzen Kunstzeit, mit Scarlatti, Leo, Lotti, Pergolese u. s. w. hat uns diese Tonsprache wieder verständlicher ge- macht. Bei der letzten Aufführung des „Saul“ konnte man diese Wahrnehmung machen. Die Arien erwiesen sich wirksamer, als wir uns je bei einem Händel’schen Oratorium erinnern. Es sind aber auch wahre Juwelen darunter und der Vortrag der ausführenden Künstler ließ an Verständniß und echter Empfindung kaum noch etwas zu wün- schen übrig. Wenn wir beim vorigen Gesellschaftsconcert einige „Unfälle“ zu be- klagen hatten, so schwebte über diesem ein ganz besonders glücklicher Stern – nicht bloß, daß die Aufführung tadellos war, sie war von einem Schwunge und Leben und einer Einheit des Zusammenwirkens, welche bei einer so großen Kör- perschaft, wie hier an Ausführenden aufgeboten war, doppelt anzuerkennen ist. Für Frau Gomperz-Bettelheim gestaltete sich die Partie des David zu einem Triumphe, welchen die vortreffliche Sängerin getrost zu den früheren Triumphen ihrer dramatischen Laufbahn registriren kann. Der Vortrag wurde je nach der Situation der Handlung auch hier zum geist- vollst belebten dramatischen. Die in milden Farben von Händel gemalte Gestalt der Michol entspricht ganz der warm empfindungsvollen Vortragsweise der Frau Dustmann, Herr Walter sang die fast durchwegs zartinnigen Arien Jonathans mit einer liebevollen Sorgfalt, welche ihm wahrhaft Ehre macht. Ganz ausgezeichnet war Herr Scaria als Saul, besonders sein Vortrag der Recitative durfte in jedem Sinne musterhaft heißen, das lebendigste Charakterbild stellte er uns hin und doch vergaß man keinen Augenblick, man sitze nicht vor der Opernbühne, son- dern habe ein Oratorium vor sich. Herr Pirk wirkte in seinen bescheidenen, aber fürs Ganze wichtigen Soli mit anerkennenswerthester Sorgfalt mit. Erheiternd war es, das Publikum das erstaunteste aller Gesichter machen zu sehen, als die Hexe von Endor Tenor zu singen begann. Das ist nun aber echt englisch, denn wie man schon aus Shakspeare’s „Macbeth“ weiß, sind die Hexen in England so etwas wie Männer: „ihr solltet Weiber sein und doch verbieten mir eure Bärte“ (wir könnten beisetzen: euer Tenor) „euch so zu deuten“.