Seite - 402 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

402 März 1873 40 45 50 55 60 65 70 75 80 tion bildet. Der von Iphigenia erzählte, ahnungsdüstere Traum ist ganz im griechi- schen Sinne – dazu nun der Gegensatz der wild-barbarischen Scythen gegen den Chor der griechischen Priesterjungfrauen, des dumpfen, angsthaft-aufgeregten Thoas gegen den lichthellen Griechenjüngling Pylades, die wunderbar gezeichnete Gestalt des den Eumeniden verfallenen Muttermörders Orest und seiner Schwes- ter Iphigenia, die versöhnend, wie eine Lichtgestalt durch die düstere Handlung schreitet; die zweimalige Einführung der Furien, ein Mal leibhaft, das zweite Mal (im dritten Act) als innere Vision Orests, gehört zum musikalisch Großartigsten aller Zeiten, – und welche Scene ist das Einschlummern Orests, der seine Erschöp- fung für den wiedererlangten Frieden hält! Das schauerlich fortmurmelnde a der Violen, welches das Einschlummern Orests begleitet, das Hereinstürmen der Strafgöttinnen, die drei scharf accentuir- ten Accorde (sie kehren in der Visionsscene des dritten Actes wieder), welche wie Schläge mit Schlangengeißeln klingen, und dann der furchtbare Furienchor, kühn und großartig von der auf- und absteigenden D-moll-Scala der Posaunen begleitet, syllabisch die Worte recitirend und nur den klagenden und anklagenden Ruf „Er ist ein Muttermörder“ in langen Tönen dem Schuldigen ins Ohr singend! Kein musikalisches Drama der Welt hat eine in ihrer Einfachheit ergreifendere Scene als die, in welcher Iphigenie dem von ihr noch nicht als Bruder, wohl aber als Grieche erkannten Orest die Geschicke ihres väterlichen Hauses abfrägt. Im dritten Acte allein nähert sich der Dichter verhältnißmäßig den Anschau- ungen seiner Zeit – der Moment der Wahl, so ergreifend er sich gestaltet, ist merk- lich auf den Effect berechnet und der lange Wettstreit der Freunde, wer für den anderen sterben solle, ist nicht recht griechisch, sondern der conventionelle Edel- muth des französischen Drama’s. Aber die Lösung im letzten Acte ist der vielleicht dankbarste Moment, den je ein Operncomponist musikalisch illustriren zu dürfen so glücklich war. Guillard hat sich dabei nicht an Euripides, sondern an einen minder bekannten griechischen Tragödiendichter gehalten. Orest kniet am Altare, Iphigenia hebt zagend das Opfermesser, da spricht Orest in träumerisch-weh- müthiger Erinnerung die Worte vor sich hin: „O Iphigenia, Schwester, so wurdest einst in Aulis du geopfert!“ Das ist ein zündender Blitz – Iphigenia erkennt den Bruder – die Priesterinnen begrüßen ihn mit lautem Zuruf. – – Es wäre der Mühe werth, die Wiedergeburt des wahren, reinen Geistes der Antike mitten in der Zopfzeit, wie sie durch die großen Deutschen Winkelmann, Gluck, Goethe herbeigeführt wurde, eigens in der Verbindung dieser drei Namen darzustellen. Wenn Winkelmann als das Kennzeichen der Antike „edle Einfalt, stille Größe“ nennt und Hettner meint, „dieser Ausspruch sei das unübertroffene Schlagwort des innersten Wesens griechischer Kunst“, so ist mit diesem Schlag- worte auch für Glucks Musik die kürzeste und beste Bezeichnung gefunden. Man könnte allenfalls noch insbesondere für Glucks Melodie die Bezeichnung bei- fügen: an keuschem Adel unübertroffen. Wir athmen griechische Luft. Was soll ich von Glucks Recitativen sagen? Sie sind, neben einigen von Mozart, die reinste und höchste Entwicklung dessen, was 200 Jahre vorher im Hause Bardi zu Florenz als Programm der Musik festgesetzt worden. Ein Componist aus jener Zeit und Schule Marco da Gagliano spricht in der Vorrede seiner „Daphne“ (1608)