Seite - 412 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

412 März 1873 60 65 70 75 80 85 90 95 100 ersten Symphoniesatz, sondern eine Ouverture zu hören. Mögen die Philharmoni- ker uns im nächsten Jahrescyklus durch Gade’s „Ossian“ oder seine kräftige, prächtige erste Symphonie erfreuen und den Componisten rehabilitiren! Franz Schuberts „Trauermarsch“ in Es-moll, ursprünglich für das Pianoforte zu vier Händen componirt, reiht sich durch Lißts wunderbare, wirklich pracht- volle Instrumentirung den schönsten Orchestercompositionen an – aus einer klei- nen Handzeichnung ist ein großes, farbenreiches Gemälde geworden. Solche „Be- arbeitungen“ kann man sich gefallen lassen! Es ist übrigens nicht die einzige meisterhafte Leistung dieser Art, welche wir Lißt verdanken. Grädeners „Capriccio“ ist die Arbeit eines talentvollen, strebenden Tonsetzers und fand sehr lebhafte Anerkennung. Es klingt in seiner Art und Weise an die ähnlichen Stücke Mendelssohns an. Gestehe ich indessen, daß ich für das ganze Genre, auch bei Mendelssohn, nicht besonders eingenommen bin. Die kurzen, hüpfenden Zweiviertel- und Dreiachtel- und Sechsachteltacte haben – da eine fei- ne Dame und Prinzenerzieherin, wie Madame de Genlis, den Ausdruck braucht, so nehmen wir keinen Anstand ihn anzuwenden – etwas von der „vivacité, que donnent les puces“. Soll aber das Genre einmal sein, so verdient Grädeners Stück Lob und wird für Orchesterconcerte eine willkommene Nummer bilden. Haydns G-dur-Symphonie (nicht die „mit dem Paukenschlag“ – auch nicht die militaire) wirkte wunderbar belebend und erfrischend. Das Thema des Adagio hat Beet- hoven, wie einen Lieblingsgedanken, wiederholt in seinen Werken wieder auftau- chen lassen. (Sonate op.  30, Nr.  3; Trio op.  70, Nr.  2; Phantasie op.  77.) Das Concert, welches Herr Wilhelm [sic] Riedel gab, ließ durch den gedrängt vollen Saal auf die große Beliebtheit des jungen Componisten und Pianisten schließen. Als Tonsetzer möchte ich Riedel am liebsten unter die „lyrischen Talen- te“ einreihen; er hat etwas der Geibel’schen Dichtart Verwandtes, zarte Empfin- dung, innige Sentimentalität, die sich einfach und ohne Schönthuerei ausspricht, bilden den Grundzug. Herr Walter und Frl. Ehnn sangen eine ziemlich große Anzahl von Liedern, welche alle mehr oder minder jenen Charakter zeigen. Die Gesänge aus Scheffels „Trompeter von Säckingen“ ordnen sich zu einem völligen Liederspiele – einem halb dramatischen Genre, welches zuerst durch Schumann aufgekommen ist und vielleicht noch eine besondere Zukunft hat. Riedels Lieder- spiel läßt nur etwas schärfere Gegensätze vermissen; Werner singt gerade so zärt- lich und zart wie seine Margaretha, sonst aber sind die Lieder ansprechend, beson- ders Werners Gesang „Sonne taucht in Meeresfluten“. Der Componist declamirt in seinen Liedersachen mehr, als daß er singt, es steckt ein kleiner Giulio Caccini in ihm. Lasse er nur den Strom schöner Melodie ungehindert fließen! In einem Trio, welches der Componist mit den Herren Hellmesberger und Popper spielte, finde ich denselben Zug zarter Empfindung wie in den Liedern. Auch hier möge der begabte Tonsetzer auf das große Kunstmittel von Gegensätzen bedacht sein, wenn er sein zweites Trio schreibt, welches wohl nicht lange auf sich warten lassen wird. Er agire den Jago und störe ein wenig das gute Einvernehmen zwischen Violine und Violoncell, welche in seinem ersten Trio fast zu sehr einerlei Meinung sind. Er beachte ferner, daß die Polyphonie für Compositionen dieser Art das eigentliche belebende Princip bildet. Ich meine nicht, daß er in Fugen