Seite - 413 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

413 März 1873 105 110 115 120 125 130 135 140 145 u. s. w. gelehrt thun soll – es ist gar nichts abscheulicher als der Wechsel und Mischmasch von brillanten Geigenpassagen, von sogenannten „Gesangstellen“ und von schulmeisterhaft fugirten Episoden in gewissen deutschen Capellmeis- ter-Ouverturen u. s. w. aus den dreißiger Jahren. Will Riedel sehen, welche Art von freiem Gange und selbstständiger Bewe- gung der einzelnen Stimmen ich meine, so schlage er nur Beethovens unsterbliche Trios op.  70 und 97 auf. Sie bleiben ewige Muster. Die beiden Trios Mendelssohns möchten weniger zu empfehlen sein, so schön sie sind – besonders das erste in D-moll – sie gleichen doch ein wenig gewissen Theaterprinzessinen, welche, wenn es ihre Rolle erlaubt, sich gerne mit ihrem ganzen ersungenen (echten!) Brillant- schmuck behängen und belasten, um uns Gründlingen im Parterre möglichst zu imponiren. Interessant war unter den von Herrn Riedel gespielten Sachen eine nachgelassene Mazurka von Chopin [sic]; ein Notturno dieses Componisten trug der Concertgeber ganz besonders schön vor, weil es an sich seiner künstlerischen Weise vorzüglich entspricht. Das Concert des Fräuleins Helene Magnus und des Herrn Professors Julius Epstein war einer jener Abende, wo der Geist der Kunst aus seinen Höhen in den Saal sichtlich herabgestiegen kommt und die Herzen erwärmt. Ich gestehe, daß ich mehr als Eine große dramatische Glanzpartie für ein kleines Lied hingäbe, wie Fräulein Magnus es singt. Die Lieder aus Schumanns Cyklus „Dichterliebe“ wer- den in mir noch lange nachklingen; es ist schwer möglich, im Liedervortrag die richtige Linie genauer zu treffen. Lebendigste Empfindung überall, aber nirgends auch nur ein Ton, der an Opernhaus und Opernbühne erinnern könnte. Dazu spielte sich darin eine ganze Scala verschiedener, ja entgegengesetzter Empfindun- gen ab. Sehr hat es uns gefreut, daß Helene Magnus auch drei Lieder von Robert Franz in ihr Programm aufgenommen. Warum wird denn dieser herrliche Tondichter so unverantwortlich vernach- lässigt? Antwort: weil das Publicum zwar immer nach Novitäten schreit, aber doch eben nur immer wieder und zum tausend und ersten Male hören will, was es schon tausend Mal gehört hat. Darum bewegen sich die Repertoires der Oper und des Concertsaales in einem erstaunlich kleinen Kreis und die herrlichsten Sachen lie- gen begraben und vergessen. Für den Moment ist Schumann Mode – Mendels- sohn ist schon wieder vergessen – vielleicht kommt einmal auch Robert Franz an die Reihe. Neben Frl. Magnus stand, der vortrefflichen Künstlerin würdig, Herr Epstein. Er nehme den herzlichsten Dank dafür, daß er den Muth gehabt, Haydns überaus anmuthige, aber durchaus nicht „moderne“ Variationen in F-moll und eine Anzahl jener kleinen Klavierstücke zu spielen, welche Beethoven bescheiden mit dem Titel „Bagatellen“ überschrieb und welche wir anderen vielleicht passen- der als „Inspirationen“ bezeichnen möchten. Es sind gleichsam die Gemmen und Cameen unter Beethovens Arbeiten, auf welche das geistvolle Wort des Plinius paßt: „die ganze Majestät der Kunst im engsten Raum.“ (majestas artis in angustum contracta). Mit großem Antheil hörten wir ein Klavierquartett von Ludwig Lackner. Hätte man es uns mit verdecktem Titelblatte gespielt, wir würden vielleicht, wenn auch etwas zweifelnd, etwa auf Schubert gerathen haben, doch nicht ohne auf einzelne fremde Züge hinzuweisen.