Seite - 417 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

417 März 1873 55 60 65 70 75 80 85 90 95 entwickeln eine erstaunliche Fruchtbarkeit in mehrstimmigen Chansons für gesel- lige Kreise; Arbeiten, welche bei vielen Tonsetzern der von Pierre Attaignant ge- druckten Sammlung eine wahrhaft frivole Entartung der alten gediegenen nieder- ländischen Contrapunktik wahrnehmen lassen. Die Maskenbälle und Tänze (mascarades, momeries) am Königshofe unter Ludwig  XII. und Franz  I. kann man so wenig der dramatisch-musikalischen Darstellung zuweisen, als die in Italien gleichzeitig so beliebten Hoffeste, wobei Götter, Göttinnen und allegorische Figu- ren sinnreiche Verse nach madrigalesken Compositionen von Tonsetzern wie Costanzo Festa, Luzzasco Luzzaschi, Luca Marenzio u. s. w. absangen. Die lebhafte Verbindung, in welche Frankreich unter Karl  VIII. und dessen Nachfolgern mit Italien gerieth, hat ohne Zweifel wesentlich mit dazu beigetragen, den Geschmack an solchen Schauspielen nach Frankreich zu verpflanzen. Daß sie dabei französische Färbung annahmen, war natürlich. Das interessanteste Beispiel dafür ist das sogenannte ballet comique de la reine, an dem jedoch keine andere Komik zu spüren ist als unwillkürliche, denn wer sollte sich nicht heiter angeregt fühlen, wenn z. B. die vier Cardinaltugenden aufziehen und die Aufgabe, zum „Chant de quatre vertus“ die Laute zu schlagen, der „Stärke“ zugewiesen ist und diese nun ihre liebe Noth hat, ihre emblematische Säule nebst dem Instrument zu schleppen? Oder wenn eine Schaar musicirender Tritonen angeschwommen kommt, wovon einer beim Schwimmen zugleich Violoncell spielt? Das merk- würdige Opus wurde am 15.  October 1581 bei Gelegenheit der Hochzeitsfeier der Mademoiselle de Vaudemont, Schwester der Königin, aufgeführt. Das Ganze war ein Gemisch von Hofball, Festzug und dramatischer Vorstellung und Alles zusam- men eine kolossale Schmeichelei für Heinrich  III. Zum dramatischen Theile dien- te die Geschichte der Circe. Die Musik von Beaulieu und Salmon, königlichen Kammermusikern, repräsentirt so recht die „Kindheit der Kunst“. Das eigentliche musikalische Drama lernte Frankreich erst zur Zeit Lud- wigs  XIV. kennen. Zur Ausfüllung der weiten Lücke hat Chouquet eine über- schauliche und wie alles Uebrige im Buche sehr gut geschriebene Darstellung der Entstehung des musikalischen Drama’s (der Oper) in Florenz und ihrer weiteren Ausbildung in Venedig beigegeben. Selbst wer die vortrefflichen Arbeiten Kiese- wetters, Winterfelds und Lindners über diese so überaus merkwürdige Epoche kennt, wird die ihr gewidmeten Blätter mit Antheil lesen; besonders ist ein von Chouquet mitgetheiltes Urtheil Gevaerts über Monteverde’s „Orfeo“ interessant und treffend. Die dramatische Cantate „Il Combattimento di Tancredi e Clorinda“, welche gegen die befangene Steifigkeit und andererseits den überwuchernden Luxus des „Orfeo“ einen ganz namhaften Fortschritt bildet, hätte jedenfalls eine Erwähnung verdient. Auch wollen wir nicht verschweigen, daß das Verzeichniß der von 1637 bis 1641 in Venedig gegebenen Opern lückenhaft und daß es eine ziemlich schlimme Unterlassungssünde ist, wenn eines der Hauptwerke von 1639: Cavalli’s „Nozze di Peleo e di Tetide“ nicht genannt wird. Francesco Caletti-Bruni, genannt Cavalli, war es, durch welchen Frankreich endlich eine wirkliche Oper erhielt. Er componirte seinen „Ercole amante“ eigens für Ludwig  XIV. Die Aufführung fand am 7.  Februar 1662 im prächtigen Saale der Tuilerien statt. Schon zwei Jahre früher hatte Cardinal Mazarin, bekanntlich