Seite - 419 - in August Wilhelm Ambros - Musikaufsätze und Rezessionen 1872-1876

419 März 1873 145 150 155 160 165 170 175 180 Leben, aber auch voll leidenschaftlicher Einseitigkeit ist. Diderot und seine Gesin- nungsgenossen machten Opposition zu Gunst der „Bouffons“, wie man eine italie- nische Sängertruppe nannte, welche damals italienische, das heißt neapolitanische Musik nach Paris brachte. (Goethe hätte nicht übersetzen sollen: „Schalksnarren“ – das giebt einen anderen Sinn.) Pergolese’s reizende „Serva padrona“ (1752), gesungen und gespielt von Anna Tonelli (Serpina) und Pietro Manelli (Don Uberto), schlug die ganze auf dem Kothurn stolzirende Oper der Académie royale de musique. Der Kampf der Natio- nalen und der italisch Gesinnten, des coin du roi und des coin de la reine, wie man die Parteien nach ihrem Aufstellungsorte im Operntheater nannte, war ein Vor- spiel zum Kampf der Gluckisten und Piccinisten, der zwanzig Jahre später losbre- chen sollte. Das sogenannte théâtre de la foire parodirte und persiflirte mittlerweile Alles und Jedes – leibhafter Offenbach des Rococo. Chouquet bringt darüber inte- ressante Notizen. Die Musik dieser zum Theil sehr geistreichen Drolerien von Le Sage u. A. ist aber nur ausnahmsweise und nur für einzelne Stellen eigens compo- nirt; insgemein werden die witzigen Couplets und Chansons nach volksbekannten Vaudeville-Melodien gesungen, gelegentlich auch ganze große Partien aus Opern von Lully, Campra u. s. w. mit genau beibehaltener Musik ergötzlich parodirt. Mit dem Kampfe der Gluckisten und Piccinisten betreten wir bekannteres Gebiet. Hinter den Staubwolken, welche er aufgewirbelt hat, sind Lully, Rameau, Campra, Rebel und Francoeur, die Bouffons, Duni und alle mit einander dem Blicke unserer Zeit beinahe unsichtbar geworden. Es ist aber lohnend, sie, wie Chouquet thut, wieder herbeizuholen. Recht wunderbar wird die Sache während der wildesten Revolutionsjahre. Die antiken Götter und Helden verschwinden und patriotische Spiele, ja Tagesbegebenheiten kommen auf die Opernbühne – in dem von Jadin componirten, am 2. Juni 1793 aufgeführten „Siège de Thionville“ konnte Merlin de Thionville das Vergnügen haben, vom Parterre aus seine eigene, vom Sänger Lefebvre gespielte Person zu bewundern. Das Empire findet an Spon- tini einen Componisten, wie es ihn nicht besser wünschen kann – „La Vestale“ und „Cortez“ verdienen in diesem Sinne wahre Monumentalwerke zu heißen. So geht es dann weiter, die Restauration bezeichnet Rossini’s glänzendes, aber kurzes Auftreten, das mit „Guillaume Tell“ ein unerwartet frühes Ende nimmt, die Zeit der Orleans sieht Meyerbeers Triumphe, das zweite Empire macht den Versuch Richard Wagner in Paris einzuführen. Chouquet ist ganz entschiedener Anti-Wagnerianer; er mag es mit den Wagnerianern ausfechten. Aber es macht seiner Kenntniß der Musikgeschichte und seinem Scharfblicke Ehre, daß er die außerordentlich große Verwandtschaft der Reformideen Wagners mit jenen der Florentiner um 1600 bemerkt und hervorhebt. Das neueste bei Chouquet erwähn- te Werk ist „La coupe du roi de Thule“, aufgeführt am 10.  Jänner 1873. Und damit wären wir, wie die Franzosen sagen, „au courant“. A. W. Ambros. Erläuterungen 3 Histoire … nos jours] Histoire de la musique dramatique en France depuis ses origines jusqu’à nos jours. ◼ 4 Gustave Chouquet] (1819–1886), frz. Musikkritiker und -historiker; für die von